Für jemanden, der wie ich die Kunst vor allem als Weg der individuellen Erfahrung sieht, wird die
zweite Geigensonate von Schumann zusammen mit seinem Manfred, Cellokonzert und einigen
anderen Werken zweifellos zu den beliebtesten und geschätztesten Musikstücken gehören.
Vielleicht ist sie das radikalste von seinen „symphonischen“ Werken, und unter den radikalen
dasjenige, das am meisten durch eine Vollkommenheit in der Form und Einheitlichkeit im Konzept
erstaunt. Sie besitzt ganz und gar die Eigenschaft, die mir zentral für Schumanns Schaffen
erscheint: das originelle schumansche Zeitmodell bzw. Bewegungsmodell. Im Großen und Ganzen
ist es eine Variante des beethovenschen „linearen“ Zeitmodells, wo die Musik sich quasi
chronologisch vom Anfang zum Ende bewegt, die Ereignisse wechseln sich fortschreitend in der
Zeit ab, das Stück wird als eine Bewegung von Höhepunkt zu Höhepunkt aufgebaut, wobei Effekte
wie Vorbereiten, Überleiten, Intensivieren, Entspannen usw. erzeugt werden. Aber im Unterschied
zu Beethoven und praktisch zu allen anderen „Symphonikern“ vermeidet Schumann dabei die
„Perspektive“, d.h. unterschiedliche Maßstäbe. Eine Symphonie von Beethoven oder Tschaikowsky
z.B. ist eine Verallgemeinerung, eine Art Projektion „epochaler Ereignisse“, sie nimmt uns in eine
bedingte, künstliche Zeit mit; die 40-minütige Dauer einer Symphonie ist wie ein ganzes Leben
oder viele Jahre. Das wird durch den erwähnten Maßstab-Unterschied erreicht, durch die
Tiefenperspektiven der Abschnitte im Vergleich zueinander. Bei Schumann haben wir praktisch in
keinem Werk dieses Umschalten, diese Pulsationsänderung, Maßstabsänderung, den Wechsel in der
Perspektiventiefe. Sogar die verschiedenen Sätze des Zyklus befinden sich quasi in einem Atem.
Und dazu ist dieser Atem der Atem der realen Zeit, der Atem des Sprechens, des Singens. 10
Minuten sind keine 10 Jahre, sie bleiben die 10 realen Minuten der Erlebnisse, der
Emotionsschwankungen, des Fantasierens, Scherzens, Leidens, Weinens... Das ist das Fundament
für die besonderen von Eigenschaften Schumanns Musik: ihre Intimität (ich würde sagen, dass alle
seine Werke Miniaturenzyklen sind), ihre unvergleichbare Ehrlichkeit, Offenheit, Lyrik, persönliche
Intonation. Jemand, der zu dieser Aufrichtigkeit nicht fähig ist, sollte den Versuch lassen, Schumann
zu spielen. (Hier komme ich auf die Kunst als Weg der individuellen Erfahrung zurück: die
individuelle Erfahrung des Interpreten, der auf seine Weise diejenige Schumanns verinnerlicht; auch
der Zuhörer ist hier für seine eigene individuelle Erfahrung selbst verantwortlich.)
Will man sich mit der individuellen Erfahrung der zweiten Sonate auseinandersetzen, so ist eine
äußerste emotionelle Spannung nötig. Eine bestimmte „Ruhe“ gibt es dort vielleicht nur an einer
Stelle, nämlich im Wiegenlied der ersten Episode im Scherzo (aber auch dort brodelt das Klavier...).
Alles andere ist eine ununterbrochene Aufgedrehtheit, ein blitzschnelles Umschalten von
quälendem Schmerz, heroischem Protest, von Verzweiflung zu Begeisterung, herzlicher Bewegtheit,
beflügelnder Hoffnung, Staunen und Zittern. Zum Finale hin wird man vielleicht nicht wirklich
etwas müde, aber es kommt ein Hauch von Versöhnung, möglicherweise sogar von Humor hinzu.
Am wildesten ist natürlich der erste Satz. Die folgenden Sätze haben viel klarer umrissene
Strukturen, das Quadratische kommt mit dem Gattungsbestimmten zusammen (einen Verdacht auf
Humor weckt bei mir z.B. diese letzte akzentuierte Viertel im Thema des Finales, das tänzerische
Stampfen). Das Element des ersten Satzes ist, glaube ich, ein Bemühen des Bewusstseins, das dabei
ist, sich zu zerstückeln, ins Dunkle zu fallen, und doch die Einheit und die Klarheit bewahren zu
wollen. Dort ist alles ein Stolpern, Tasten, ins Wort Fallen, es sind Fragmente, Metamorphosen,
Halluzinationen usw. Alles außer dem Seitenthema, das wie etwas Übernatürliches ist, eine ideale
Einfachheit und die Nähe des Schönen und Guten, des Trostes, die immer nah sind, immer in dir
selbst, aber du hast keine Macht über sie, sie kommen plötzlich und zufällig (oder auch nicht,
sondern erst, wenn das Maß an Leiden voll ist?). Diese unantastbare Nähe blendet fast, schon bei
der ersten Erscheinung des Seitenthemas auf dem überzogenen Bass; unglaublich ist die
Metamorphose des „Leidensmotivs“ (das sinkende Motiv aus drei Tönen ist eigentlich das
Hauptmaterial für den ganzen Satz), wenn dieses in der dir deine Sünden vergebenden Melodie am
Ende des Seitenthemas wiederkommt.
Am Beispiel dieser Sonate kann man überhaupt sehen, welche großartigen Resultate die „gelehrte“
deutsche Musik erreichen kann, das Gegenteil eines Potpourris aus verschiedenen schönen
Melodien (Schumann ist wohl der letzte große deutsche Komponist, bei dem die Technik und
Gefühlstiefe sich vollständig ergänzen; nach ihm trennt sich die Musik deutlich in zwei Hauptwege:
den Weg des Akademismus, und den des Dilettantismus). Dieses sinkende Motiv (lang – kurz) und
die Intonation (aus drei, später sogar aus zwei Tönen) sind zentral für die ganze Sonate. Das ganze
Material des ersten Satzes ist schon in der Einleitung vorhanden (neben dem sinkenden „Seufzer-
Urmotiv“ auch die Fanfare). Während des ganzen Satzes entwickeln und verändern sie sich
(besonders wichtig ist der Unterschied von zwei Varianten: die Auftakt-Variante und die Seufzer-
Variante: eine Synkope, die zur Pause führt) und vereinen sich (schon in der Einleitung gibt es ihren
Kontrapunkt, auf dem dann das Hauptthema aufgebaut wird).
Es entsteht so ein typisch deutscher, komplexer, ambivalenter musikalischer Raum: man kann alles
auf der Ebene der großen Abschnitte, der breit sich entfaltenden Themen wahrnehmen (hier wären
die Motive weniger bedeutend), aber auch auf der Ebene der Motive (dann wären die Themen nur
das „Produkt“ der Motive). Unglaublich intensiv ist auch die Spannung zwischen den Ebenen des
„Gesetz- mäßigen“ (Einheitlichkeit, totale Verbundenheit) und des „Zufälligen“ (wie genau
realisiert sich die Einheit, was genau passiert mit dem Ausgangs-Material – hier wirklich
schwindelerregend, auf der Grenze zum „Wahn“). Nur diese Technik kann die Musik von „über
Etwas“ in dieses „Etwas“ verwandeln, ihre Echtheit sichern (die gegensätzlichen Emotionen,
Gestalten sind nicht beliebig, sondern stammen von dem gleichen Wesentlichen ab).
Im Hauptthema selbst ist all das schon zu finden (sowie auch in dem neuen Thema aus der
Durchführung). Es enthält zwei Ebenen, zwei Sichtmöglichkeiten gleichzeitig: das Thema der
Halbenoten (dies ist übrigens auch nicht so sicher und ausgewogen, wie es scheint, eher versucht es
die ganze Zeit das Gleichgewicht zu bewahren, aber mit dem ständigen Hauch von Anstrengung
und Angst) und dem verwirrten, bestürzten Kontrapunkt, der auch aus zwei verschiedenen Motiven
besteht. Das erste (eben die „Ur-Intonation“ der Sonate) ist ein Seufzer, gar ein Stöhnen – man
sollte es sich nicht als ein „Auftakt ins Nichts“ vorstellen – und das zweite, steigernde, das gerade
ein solcher Auftakt ist. Das Seitenthema aber hat keine „Entzweiung“; die „Ur- Intonationen“
werden auf eine zauberhafte Art darin integriert und werden so zu einem organischen Teil dieser
wunderschönen Melodie. Fanfare und Seufzer/Stöhnen begrenzen die ganze Gestaltsphäre der
Sonate sowie alle Gattungsquellen: Das Heroische, Symphonische ver- eint sich mit dem Lyrischen,
Liedhaften.
Das ist auch sehr deutlich im Scherzo zu hören: einmal in dem Refrain, wo der „flehenden“ Phrase
des Klaviers eine böse Fanfare „Nein – Nein – Nein – Nein!“ antwortet, und dann in der großartigen
zweiten Episode, der hingabevollen Melodie mit dem heroischen Anfang und dem romanzeartigen
Schluss.
Der dritte Satz gleicht einem ironisch-naiven Gedicht, wie man es von Goethe oder Heine kennt. Es
ist kein Gitarren-Spiel um etwas Kindliches, Naives, Schwaches, Einfaches und Schönes (das
Thema ist auf keinen Fall hier auftaktig zu spielen, sondern immer – jeden Takt – abphrasierend),
sondern es ist selbst ein Teil, ein Gegenpol der komplexen und leidenden Welt. Die Musik des
Scherzo stürzt nicht „von draußen“ auf diese „Insel der Reinheit“, sondern taucht für einen
Augenblick auf, wie etwas, was unsichtbar immer präsent war.
Das Finale, wie ich schon angedeutet habe, ist kein „Schluss“, keine „Lösung“ (aber es ist auch
nicht wie bei Schubert, wo man am Schluss am gleichen Punkt ist wie am Anfang). Die Zeit ist
schon verflossen – die künstliche, bedingte, die der realen gleicht –, und wenn der Zustand sich
etwas geändert hat, dann in Richtung einer etwas größeren „Objektivität“. So ist z.B. beide Male
beim Übergang zum Seitenthema durch die „trügerische“ Abweichung eine zarte Ironie, eine leichte
Distanziertheit, die mit der Intimität verschmilzt, zu spüren. Die Coda ist ein Aufschwung der
Hoffnung und des Enthusiasmus. Das Heroische und das Lyrische sind untrennbar; das
Seitenthema, das in der Reprise nicht das D-Dur erreichen konnte, erreicht es hier wie durch eine
Willenskraftanstrengung doch noch: besser im letzten Moment, als nie.