Die christliche Mythologie, und ganz besonders die christliche Ikonographie, verbindet viele
Themen, die nicht nur für einen überzeugten Christen aufregend und aktuell sind, sondern auch
für einen Nichtgläubigen: Vertrauen, Verrat, Reue, Selbstzweifel, Zukunftsangst, Com-Union, vita
activa gegen vita contemplativa u. a.
Vor allem kann man das Thema des Schmerzes, des schuldlosen Leidens (das Opfer-Thema) dem
der Schönheit, des Wunders, des Glücks und des intuitiven Wissens gegenüberstellen; das erste
ist mit dem Symbol des Kreuzes verbunden, das zweite mit der Gestalt der Gottesmutter und
ihrem Kind.
Diese Gegenpole, die auch den Lauf der Zeit bestimmen (sie verwandeln ein Jahr in einen Zyklus),
umfassen das gesamte menschliche emotionale Spektrum: von Jubel, Dankbarkeit, Hoffnung und
Zuversicht auf die Zukunft (Weihnachten) - bis hin zur Verzweiflung, dem Protest, der Ablehnung
des Lebens als einer unverdienten und ungerechtfertigten Qual (Karfreitag). Künstler, die sich mit
diesen Themen auseinandersetzen, können sowohl fromme Christen sein als auch einer anderen
bzw. gar keiner Religion angehören.
Die Gestalt einer überirdisch schönen Magd mit ihrem Kinde - ebenso wie die Vorstellung eines
sündenfreien Märtyrertums - ist ein Symbol, das über den Rahmen einer bestimmten Mythologie
hinausgeht und kann zum Zentrum einer jeden Mythologie, einer jeden Kultur werden.
Das Kind, das noch keine Lebenserfahrung hat, als Gegenstand der Anbetung (die christliche
Anbetung des Kindes aller sozialen Schichten, von „Hirten“ bis „Königen“ bzw. Rittern oder
reichen und mächtigen Bild-Auftraggebern, ist nur ein Beispiel allumfassender Idealisierung der
Jungfrau mit einem Kind), steht für das Schwache, das zugleich die äußerste
Lebensfülle, das maximale Lebenspotential bedeutet (das Starke ist letztendlich eine Art
Widerstand gegen das Leben, eine Fixierung, Verhärtung) - , für die Akzeptanz des Lebens, für
das Vertrauen in das Leben und schließlich für ein intuitives Wissen über dasselbe, ein Wissen,
das primärer als Erfahrung ist, der Erfahrung vorangeht.
Dabei bleibt das Fundament der beiden Gegenpole irrational: das Leben als Fluch bzw.
unverdiente Strafe, und das Leben als Geschenk bzw. unverdiente Belohnung.
Das Irrationale hier lässt sich mit keiner Dialektik von Opfer und Heilung, Tod im
Auferstehungswillen usw. überwinden, um die beiden Pole in ein und demselben Wahrnehmungs-
Augenblick zu vereinen, wie es kaum Bilder gibt, die in einem und demselben Raum die Madonna
mit dem Kind und den Gekreuzigten platzieren; vielleicht ist diese Unmöglichkeit der Schlüssel zur
Natur der Zeit, als einer Simulation von Freiheit vom Paradoxon der Gleichzeitigkeit!
Hamlet lebt, er ist in dem Moment, wo er zugibt, dass es besser wäre, nicht zu sein; das Kind, das
die Unabwendbarkeit und die Sinnlosigkeit der zukünftigen Qualen vorausahnt, ist die Bejahung
des Lebens, der Schönheit und der Hoffnung.
Das Kind und der Gekreuzigte sind Männer, zum Leben, Agieren und Sterben geboren, die Magd
ist hingegen Quelle des Lebens. An dieser Stelle schafft die christliche Mythologie bzw.
Ikonographie eine Vorstellung, die vermutlich die Gesamtentwicklung der europäischen Kultur
bestimmt hat: Maria ist eine Jungfrau, und die gesamte wundersame Vollkommenheit und
Schönheit ihrer Gestalt ist von dieser Vorstellung abhängig.
Die Vorstellung von Jungfräulichkeit (oder der entsprechende Mythos, der mit dem Glauben an
Erwerb und Besitz zu tun hat) ist weit genug verbreitet auch ausserhalb des Christentums, man
denke nur an gewisse Hochzeits-Riten oder an das islamische Paradies. Freilich bekommt die
Idee der Jungfräulichkeit auch im Christentum einen anrüchigen Hauch, in den frommen
Vorstellungen wie z. B. Braut Christi oder in der ritterlich-platonischen Anbetung vielleicht gar
noch schärfer als in den zahlreichen Karikaturen und spöttischen Dichtungen mit
pornographischem Unterton.
Dass die Idee der Sündhaftigkeit von Sexualität das europäische Bewusstsein formte, ist
offensichtlich und allbekannt; die christliche Kultur war zu einem Gebäude mit einer Hauptpforte
geworden – der Diskreditierung und dem Verbot des Sexuellen, dem freiwilligen Verzicht - und
zugleich mit zahlreichen Geheimtürchen und Geheimgängen, die der Sexualität eine Rückkehr
und eine volle Entfaltung ermöglichten, ähnlich den ominösen Schleichwegen in den Klöstern,
über die man bei Boccaccio oder Aretin liest. Ein Bau, der auch die Organisation des psychischen
Raumes widerspiegelt mit seiner Entzweiung auf das, was sein soll und das, was ist -, das,
worüber gesprochen wird und das, worüber geschwiegen -, das, was man mit offenem Gesicht
-, und das, was man nur maskiert verrichten darf.
Jedoch kann man neben diesen gewichtigen Momenten in der Gestalt Mariens auch etwas ganz
anderes lesen: den Mythos von Freiheit von Sex.
Ich weiss nicht, ob Tieren die Verbindung zwischen Coitus und Fortpflanzung bewusst sein kann
und ob es unseren frühen Vorfahren immer bewusst war (vielleicht gibt es heute noch Kulturen,
die diesen Zusammenhang ignorieren), aber in diesem Mythos geht es um die Verletzung, ja
Aufhebung dieser Verbindung.
Die Magd gebiert ihr Kind dank der Kraft des unsichtbaren Geistes, ohne Scham und Schmutz
(derartige Bewertungungen sind freilich nicht nur für das Christentum typisch)-, sie muss sich
weder von Erotik zurückhalten noch ist ihr das Sexuelle verboten, sie braucht beides nicht, und
bewahrt sich die ganze Fülle ihrer Persönlichkeit und auch ihre physische Möglichkeit, Mutter zu
werden. Dies schimmert durch ihre eigenartige Schönheit, einem Ideal, an dem Generationen von
Ikonenmalern und Künstlern gearbeitet haben: eine Unbeflecktheit - nicht aus einem Verbot
heraus, nicht als ein erotischer Kniff -, sondern von Natur aus.
Freiheit von Sexualität ist nicht nur eine heuchlerische Aussage oder ein langweiliges Lamento, es
ist auch eine Freiheit von der „dunklen Seite“: unkontrollierbare Bedürfnisse, Besessenheit,
Begierden und Fantasien. Letztendlich - eine Utopie der Gesellschaft, die frei vom Rausch sein
will, vom Drang einander zu quälen und der Freude zu zerstören.
All das kann man im Antlitz der Madonna lesen, und es vermehrt seinerseits den schmerzlichen
inneren Dualismus des Menschen: diese Utopie bleibt anziehend und aktuell, in ihrer Kraft
vielleicht nur mit der Unsterblichkeits-Utopie vergleichbar. Zugleich bedeutet die Madonna mit
dem Kind eine Akzeptanz des Todes und einen freien Verzicht auf Unsterblichkeit: das Kind steht
für den Lebenszyklus, für die Bereitschaft, selbst zu gehen und einen Vertreter zu hinterlassen. …
Allerdings scheint das Verlangen nach Unsterblichkeit (heute nicht weniger aktuell als vor
Jahrhunderten) ein direkter Gegenpol der Unbeflecktheits-Utopie zu sein, denn was ist es, wenn
nicht das Wollen eines ewigen, immer erneuerbaren Genusses? Andererseits bedeutet Maria nicht
unbedingt ein Genuss-Verbot an sich, es geht hier nicht um eine hässliche Simulation der
Abwesenheit sexuellen Verlangens, wie bei Barbaren, die Frauenbeschneidung praktizieren,
sondern eher um einen Versuch, Harmonie zwischen Willen und Wollen zu fordern, die
gleichermaßen bewusst wie intuitiv ist, geistig wie körperlich.
Es ist offensichtlich, dass die Menschheit, die seit langem das Problem der Trennung von Sex und
Fortpflanzung zu lösen versucht, heute auf große Fortschritte zurücksehen kann - den
alchemistischen Homunculus zurücklassend wie auch die breite Auswahl an Verhütungsmitteln,
die Institutionen, die sich um unerwünschte Kinder kümmern, die Abtreibungs-Diskussionen, die
Eugenik oder die Theorien der allgemeinen Erziehung durch die Gesellschaft.
Allerdings investiert man heute weniger in Pyramidenbau als in die Entwicklung der
Wissenschaften wie Biologie und Genforschung einerseits, KI-Forschung andererseits. Die Erfolge
liegen auf der Hand, und das Geschlecht wird zu einem zufälligen und manipulierbaren Faktor,
gleichzeitig mit der Emanzipation der Sexualität zu einem völlig eigenständigen und von anderen
Lebenssphären abgekoppelten Bereich.
Angesichts der Ur-Gestalt der Jungfrau mit dem Kind ist freilich schwer zu erkennen, welchen
Weg die Entwicklung dieser Gestalt genommen hat. Es liegt aber eine einfache Logik darin:
sobald die Utopie einer Trennung von Sexualität und Fortpflanzung zur Realität geworden ist,
bleibt die Utopie einer Freiheit von Begierde, eine Verklärung sexueller Energie unrealisierbar.
Endgültig wurde dies erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts festgestellt und proklamiert, und zwar
in Wagners Oper Tristan und Isolde. Mit ihr löst sich der christliche Mythos zugunsten der
aufsteigenden sexuellen Revolution und anderen Symptomen einer radikalen Verwandlung der
europäischen Kultur auf. Die Unbesiegbarkeit von Begierde, ihre Unabhängigkeit vom Willen ist
der Liebestrank, und das Erreichen einer Liebesextase trotz Vernunft und trotz sozialem Gesetz
wird vom Schicksal bestimmt bzw. ist Sache des Zufalls.
Hier vereinen sich einerseits die vollkommene Selbstrealisation als Sieg des Irrationalen,
Vereinigung mit der eigenen Intuition, und andererseits die Aufhebung des Persönlichen (des
Mythos von Individualität), des Selbst-Bewusstseins und und der Selbst-Kontrolle.
Während die Offenbarung des Tristan nicht nur die Entfaltung der ekstatischen,
expressionistischen und surrealistischen Kunst ermöglichte, sondern auch die Blüte der
esoterischen Lehren wie auch die wissenschaftlich bekleidete Psychologie (mit der sexuellen
Revolution als Höhepunkt); so hat Wagner - der einzige in der langen Reihe von Künstlern, die
sich prophetische Qualitäten zugeschrieben haben, der tatsächlich wie ein Prophet die Realität
verändert hat - auch den nächsten Schritt gemacht: Im Parsifal ist ein Ideal gegeben, das sich
noch nicht in der Entwicklung der westlichen - jetzt auch globalen - Kultur durchgesetzt hat: die
Utopie einer monogeschlechtlichen Gesellschaft (die man als homosexuell sehen darf, aber nicht
muss), eines Sieges über das Sexuelle als eines Sieges über die Vagina, letztendlich über das
Ewig Weibliche.
Vielmehr hat die nach-tristan‘sche Änderung des Sexualstatus', die auch de facto ein Ende des
Christentums bedeutete, weder zu ekstatischen Mysterien geführt noch zu einer sündenfreien
Überwindung des Instinktiven, sondern zu einer De-dämonisierung, De-sakralisierung von Sex, zu
seiner Verwandlung in eine billige, alltägliche und wenig bedeutsame Spaß-Angelegenheit. Die
Trennung von Sex und Fortpflanzung kann sich nun gut mit dem Unsterblichkeits-Ideal vertragen,
und die soziale Ordnung macht sich von einem mythischen - aber auch von einem physiologisch
erfahrbaren - Geschlechts-Dualismus unabhängig.