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Neun Thesen zur musikalischen Semantik

1 (Realität ist Inhalt der Wahrnehmung). Alles, was existiert, existiert immer als Inhalt von
individueller interpretierender Wahrnehmung.
2 (Individuelle Wahrnehmung ist die dynamische Beziehung zwischen Kultur und individuellen
Eigenschaften einer Persönlichkeit). Die individuelle Wahrnehmung ist ein ständiger Austausch
zwischen der Kultur, die sie formt (als ein System von Mythen und Ritualen), und der
unmittelbaren Erfahrung.
3 (Individuelle Wahrnehmung ist ein Wechsel von verschiedenen Wahrnehmungs-Modi). Die
individuelle Wahrnehmung befindet sich immer in einem bestimmten Modus, Zustand: Schlaf,
Aggression, Apathie, Verliebtsein, alltägliches Funktionieren, Empathie, Drogenrausch,
schöpferische Begeisterung, meditative Verklärung, künstlerisches Erleben usw.
4 (Das ästhetische Erlebnis ist eines der Wahrnehmungs-Modi). Das künstlerische Erlebnis als
unmittelbare Erfahrung im „Hier und Jetzt“ beansprucht (fordert) maximal intensive emotionale wie
intellektuelle Arbeit der Wahrnehmung; sie sorgt genauso für die emotional beladene Bindung des
Individuums am kulturellen Mythos wie sie ihn von diesem Mythos trennt, indem sie die
Einzigartigkeit der unmittelbaren Erfahrung betont.
Das Künstlerische, das Ästhetische ist das, was den Mythen und Riten einer Kultur
Glaubwürdigkeit verleiht, ihnen den Status der Realität für die individuelle Wahrnehmung sichert -
und drückt sich dabei in einem bestimmten Stil des Redens (politisch, juristisch, offiziellpatriotisch,
links, rechts, intellektuell, plebejisch, verbrecherisch…), in der Gestik und Mimik, in
der Kleidung und anderen Attributen des sozialen Status (inklusive Benimmregeln wie
professionelle Etikette, Spiele, Unterhaltung, Lebensstandards u. A.) aus.
5 (Das ästhetische Erlebnis ist gleichzeitig eine der wichtigsten Stützen der europäischen Kultur
und eine Alternative der Kultur an sich). Die Besonderheit der Europäischen Kultur liegt in der
Praxis eines kritischen Umdenkens der vorhandenen Mythologie. Somit befindet sich der
europäische kulturelle Mythos, der um die Vorstellung von Zukunft als Ziel und Rechtfertigung der
Gegenwart herum aufgebaut ist, in einer ständigen Bewegung. Die Mythologie der Optimierung
der Welt und des Menschen findet ihre Rechtfertigung in offensichtlichen Errungenschaften der
Technik und der sozialen Organisation, appelliert dabei aber nur an einen der Wahrnehmungs-
Modi (der dementsprechend auch als Norm postuliert wird): an den Alltagsmodus, der sich in der
Struktur und Semantik der verbalen Sprache widerspiegelt. Die individuelle Wahrnehmung wird
dabei als eine „menschliche Einheit“ von außen definiert: Name, Geburtsdatum,
Staatsangehörigkeit, Beruf, Zahlungsfähigkeit. Dabei beruht die Verbindung zwischen einer
einzelnen individuellen Wahrnehmung und der Kultur (als schon gegebene Interpretation dieser
Wahrnehmung) ausschließlich auf Rituale. Also hängt die Lebensfähigkeit der europäischen Kultur,
die die Unbeweglichkeit der religiösen Synthese aufgegeben hat, von der Überzeugungskraft
(sprich ästhetische Wirkung - und somit wird das ästhetische Erleben doch zum wichtigen Teil
dieser scheinbar rationalistischen Kultur) dieser Rituale.
6 (Musik ist die Möglichkeit zu einem unendlich differenzierten Erlebnis eines Weltmodells). Mit der
Durchsetzung der Vorstellung einer von religiösen Dogmen unabhängigen Wissenschaftlichkeit
hängt die Emanzipation des Ästhetischen als einer selbständigen Sphäre zusammen. Schon bei
Bach ist die Musik nicht eine Fortsetzung der Religion, sondern umgekehrt: die christliche
Mythologie wird hier zu einem - wenn auch wesentlichen - Elementen der Musik. Einige
Generationen später erreicht die Musik an sich schon den Status einer Religion (bei Wagner,
Bruckner, Skryabin und deren Zuhörer), danach beginnt die Kunst als Eckstein der Kultur Schritt
für Schritt an Bedeutung zu verlieren und wird allmählich durch eine Unterhaltungsindustrie
ersetzt. Heute besteht eine gewisse Balance zwischen dem Glauben an der wissenschaftlichen
Erforschung einer objektiven Realität und dem Spiel an einer als virtuell markierten Realität.
Das Ästhetische erlebt eine Verwandlung, wird zu etwas Anderem, parallel zum Wandel in des Ich-
Konstrukts in der „globalisierten“ Kultur. In den Epochen kritischen Umdenkens der christlichen,
feudalen, humanistischen, reformatorischen, aufklärerischen, romantischen Mythologien hat die
Kunst dagegen immer ihren hohen Status bewahrt, als gleichzeitige Bestätigung und Widerlegung
dieser Mythologien, als die letzte, perfekte Form der Verwirklichung der entsprechenden Realitäts-
Modelle und gleichzeitig - ihre Alternative, ein Zufluchtsort einer hoch entwickelten, geschärften
und raffinierten individuellen Wahrnehmung.
Ausgerechnet in der Kunst haben die Europäer ihre - sich schneller oder langsamer verändernden
- Vorstellungen über die Materie und Struktur der Welt und des Menschen maximal zum Ausdruck
gebracht. Gut und Böse, Glück und Katastrophe, Dynamisches und Statisches, Leben und Tod,
Krieg und Liebe, Schicksal und freier Willen, Sieg und Niederlage, Hoffnung und Verzweiflung,
Rationales und Irrationales, Ruhm und Schande, Lustiges und Trauriges, Schönes und Hässliches,
Ersehntes und Abstoßendes, Reichtum und Armut, Macht und Sklaverei, Prunk und Askese, Mut
und Feigheit, Glaube und Zweifel, Barmherzigkeit und Strenge, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit,
Sünde und Tugend, Utopie und Apokalypse… all diese Vorstellungen mit unendlichen Details und
in unzähligen Kombinationen sind Inhalt der europäischen Kunst. Und doch - es wäre vergeblich,
sie in Texten, Bildern, Gebäuden zu suchen: sie befinden sich nicht in Kunstwerken, sondern in
der Wahrnehmung des Einzelnen, der sie unmittelbar - hier und jetzt - ästhetisch erlebt.
Musik befindet sich weder in den Noten noch in den Klängen, sondern allein im Kopf des
Zuhörers (bzw. Spielers oder auch Komponisten) in dem Moment, wenn er sie hört (liest, sich an
sie erinnert, erlebt - im Falle einer Gehörlosigkeit- durch Vibrationen…); das gleiche gilt freilich für
alle Künste.
7 (Das ästhetisches Erleben der Musik - als wertvoller und erwünschter Prozess aus dem
Blickwinkel der Kultur wie aus dem Blickwinkel des Individuums - setzt eine komplexe und
umfassende Vorbereitung der Wahrnehmung voraus). Wahrnehmung ist die einzige Umwelt, in der
ein Kunstwerk leben kann, und je komplexer, emotional und intellektuell beladener, feiner ein Werk
ist, desto mehr Forderungen stellt es der Wahrnehmung gegenüber. Einerseits ist offensichtlich,
dass man von einem Werk als einer selbstgleichen Einheit nicht reden kann: es existiert nicht als
eine ewige statische Idee auf einem platonischen Ideenhimmel, sondern nur als eine
Unendlichkeit konkreter einzelner Realisationen in den Momenten der unmittelbaren
Wahrnehmung. Selbst ein und derselbe Zuhörer schafft das gleiche Werk jedes Mal von neuem
und jedes Mal anders bei jeder neuen Wahrnehmung. Andererseits wird hinter dieser unendlichen
Menge doch etwas Unveränderbares erahnt, ein Wesen, das unerreichbar und doch nah und
intuitiv in jedem einzelnen Erleben gegeben ist. Dieses gesamte Emanations-Spektrum,
angefangen bei den ganz allgemeinen, durch die menschliche Physiologie gegebenen Zügen,
über die, die durch Verwurzelung in der europäischen Kultur allgemein bestimmt sind, und die, die
mit zeitlichen und geografischen Bedingungen verbunden sind, bis zu den fast zufälligen, die mit
Besonderheiten des Individuums zu einer bestimmten Zeit zu tun haben, lässt sich durchaus
analysieren.
Die adäquate Analyse eines musikalischen Werkes kann man sich dann als Analyse der Daten
vorstellen, die man beim Scannen des Gehirns eines Zuhörers gewonnen hat. Freilich wird man
eine hohe Intensität an intellektueller Arbeit feststellen wie auch eine ganz breite Assoziations-
Palette (von ganz fundamentalen, wie taktilen oder geschmacklichen Assoziationen bis zu höchst
verworrenen individuellen, in denen sich jeweilige biografische Erfahrung mit der kulturellen
Mythologie und mit der vorhandenen Erfahrung des ästhetischen Erlebens vermischt) - nicht
minder auch die Intensität des Emotions-Spiel.
Das Emotional-angesprochen-sein (an sich - unabhängig vom konkreten Inhalt) kann man dabei
als Schlüssel zur Frage der Motivation sehen: einerseits in der Frage, warum der Mensch
überhaupt ein Verlangen nach ästhetischem Erleben hat (ästhetische Erlebnis als Wahrnehmungs-
Modus), andererseits in der Frage, warum sich eine Kultur so gerne und so großzügig des
Ästhetischen bedient - wie einer Art Überzeugungs-Droge, neben ihrem Apparat der Kontrolle und
des Zwangs.
Positive Emotionen (Gefühl von Erkennen, Verstehen, Teilhaben…) sind vermutlich auch das
Fundament für die intensive intellektuelle Arbeit, die ein Kunstwerk beansprucht. Das ist der
Prozess der strukturellen Interpretation: es werden formale Strukturen des Werkes erkannt bzw.
dem Werk zugeschrieben. Die Komposition als komplexe Beziehung der Elemente eines
geschlossenen Ganzen (in einem Bild, in einem Gedicht, in einem Gebäude und vor Allem in
einem in Noten festgehaltenen musikalischen Werk) ist eine spezifisch betonte Eigenschaft der
europäischen Kunst (die dem Gewicht vom Abstrakten und Formalen in dem europäischen
kulturellen Mythos entspricht). Das Zuschreiben von formalen Strukturen auf unterschiedlichen -
hierarchisch konzipierten - Ebenen stütz sich auf einige fundamentale Eigenschaften der
menschlichen Wahrnehmung (die Neigung zur Festlegung von Gesetzmäßigkeiten, die
physiologisch gegebene Erfahrung der Zeit-Periodisierung, allein das Gedächtnis, das das
Erkennen überhaupt möglich macht), setzt aber auch eine ernsthafte Vorbereitung voraus. Die
Fähigkeit, formale Strukturen in der europäischen Musik zu erkennen (bzw. zu bestimmen),
erfordert auch eine Sensibilität für Harmonik und die Fähigkeit, die musikalische Textur zu
differenzieren.
Diese Fähigkeiten sind notwendig für den hypothetischen idealen Zuhörer, dessen ästhetisches
Erlebnis wir für die Analyse voraussetzen, darüber hinaus braucht man aber noch weitere. Der
ideale Zuhörer ist einer, der sich in dem europäischen Kulturraum der letzten Jahrhunderte im
eigenem Element fühlt… Der sich mit der Mythologie des Katholizismus und Protestantismus
auskennt, aber auch des Deismus, Atheismus, der romantischen Esoterik, des Positivismus… Der
ein Gefühl für die sozialen Unterschiede der ferneren und näheren Vergangenheit hat, aber auch
für die lokalen geographisch bedingten Unterschiede in Sprachen und Sitten, dem eine klassische
Bildung nicht fremd ist, und der am besten auch selbst musizieren, tanzen, dichten und zeichnen
kann (gut wären auch Erfahrungen im Reiten oder Fechten). Es mag heute utopisch klingen, aber
ein gebildeter Europäer der vergangenen Jahrhunderte hat im Großen und Ganzen diesem Bild
entsprochen. Allerdings - zum Glück - bleibt eine gewisse Offenheit, Interpretierbarkeit auch ein
wesentliches, unverzichtbares Element der europäischen Kunst, neben ihrer Verwurzelung in der
entsprechenden Mythologie und ihren an die Wahrnehmung gerichteten hohen Voraussetzungen.
Wenn eine individuelle Wahrnehmung ein bestimmtes Minimum der Eigenschaften besitzt (wie z.
B. die harmonische Sensibilität und Geübtheit im Erkennen), kann eine Menge an toten Klängen
oder Zeichen in ihr zum Leben erwachen.
8 (Der Versuch, Musik zu verstehen, ist gleichzeitig der Versuch, die Wahrnehmung zu verstehen
und ist möglich nur als Kommunikation zwischen Individuen, die einerseits die notwendige
Voraussetzungen besitzen und andererseits auf ihre Subjektivität nicht verzichten).
Somit muss jedes analytische Wissen über die europäische Musik sowohl aus der individuellen
Wahrnehmung hier und jetzt hervorgehen als auch aus der Menge der Elemente, die das
(bewegliche) Fundament der europäischen Kultur der letzten acht Jahrhunderte bilden, zuerst aus
den Elementen der europäischen Musiksprache (harmonische Gravitationen, mehrstimmige
Textur, Thematismus, Formbildung, Gattungs-Kriterien). Man kann kein „objektives Wissen“ dabei
erwarten bzw. anstreben, und einem Menschen, der die entsprechende Wahrnehmungs-
Fähigkeiten nicht erworben hat, werden weder Lehrbücher, noch Diplome helfen, aber auch kein
technisches Beherrschen eines Musikinstrumentes. Für diejenigen aber, die entsprechende
Fähigkeiten in sich kultivieren, eine reiche ästhetische Erfahrung besitzen und sich nach weiteren
Erfahrungen sehnen - als einer Alternative der verbalisierbaren, mit Geld und Erfolg messbaren
Alltags-Realität (von Kultur als die Realität postuliert) -, ist der Weg der semantischen
Musikanalyse offen, als Weg der tiefen und kreativen Kommunikation, wo die individuellen Züge
aller Teilnehmer - „das Subjektive“ - nur eine Bereicherung sind.
So ist die semantische Musikanalyse ein Wissens-Schaffen, das eher an die
Auseinandersetzungen der Talmudisten erinnert als an die nach dem Vorbild von experimentellen
Wissenschaften konstruierten positivistischen „humanitären Wissenschaft“ (die auch heute noch
einen absurden Anspruch auf „objektives Wissen" erhebt).
Freilich kann man da von einem Idealfall reden: das gemeinsame Musizieren als nonverbale,
unendlich intensive und differenzierte Kommunikation (instrumentale wie vokale Kammermusik,
die nicht zum Zuhören, sondern nur zum gemeinsamen Musizieren gedacht ist, ist die Gestalt und
der Weg der idealen Kommunikation). Aber auch ein analytisches Gespräch über Musik darf man
nicht unterschätzen: das gemeinsame Vertiefen in so eine Diskussion ist gleichzeitig - ein Vertiefen
in die eigene Persönlichkeit und das Sich-Auseinandersetzen mit einer klar, anschaulich
gegebenen metaphysischen Problematik (nicht minder auch historischen, psychologischen,
anthropologischen).
Eine solche Analyse kann die traditionelle theoretische Terminologie verwenden, ohne von ihr -
und noch wichtiger, von den akademischen formalen Schemata - abhängig zu werden. Ein Werk
wird als eine Menge von Möglichkeiten gesehen, als das Mittel, das ästhetische Wahrnehmen in
Gang zu bringen - als Prozess, in dem die Persönlichkeit in all ihren Facetten angesprochen wird
und ein Gefühl der Echtheit eigener Existenz gewinnen kann. Um das zu ermöglichen, muss ein
Werk einerseits prinzipiell interpretierbar sein - also überhaupt wahrgenommen werden können -,
und andererseits ambivalent, komplex, mehrdeutig interpretierbar, d. h. ästhetisch und nur
ästhetisch: ohne zu einem Zeichen zu werden und ohne verbal übersetzbar zu sein. Das
ästhetische Erleben bzw. Kunstwerk kann nicht einer Reduktion unterzogen werden. Das beste
Beispiel dafür ist eben die Musik, die nicht nur nach Zeit verlangt, um wahrgenommen zu werden,
sondern auch selbst zeitliche Strukturen schafft. Diese Strukturen, die in der europäischen Musik
immer auf eine oder andere Art über die Vorstellung einer ungefähr gleichmäßigen (nicht
metronomischen!) Pulsation aufgebaut sind, erlauben dem Wahrnehmenden besonders intensiv
und differenziert das Phänomen des Fließens der Zeit schon an sich zu erleben - und die
zyklischen wie linearen Prozesse, die damit verbunden sind. Schon allein deswegen kann man
von einem eigenem, besonderem Wahrnehmungsmodus reden, der sich prinzipiell von dem
Alltagsmodus mit seiner Orientierung nach Uhr und Kalender unterscheidet. Die Zeitstrukturen in
der Musik erweisen sich als ungleichmäßig, ausdehnbar oder komprimierbar, mehrschichtig und
gleichzeitig in unterschiedlichen Maßstäben gegeben. Die gleichmäßige Pulsation bleibt
vorausgesetzt, soll aber weder zu mechanischer Periodizität tendieren noch zum Primat über die
komplexeren Strukturen. Schon der Vergleich von Aufnahmen aus dem frühen zwanzigsten
Jahrhundert mit den in der Nachkriegszeit entstandenen zeigt ein schockierendes Bild vom
Ersetzen des Atems durch eine mechanische Gleichmäßigkeit. Freilich hat auch dieses Ersetzen
seine Semantik, die sich analysieren lässt…
Gerade in ihrer komplexen differenzierten Arbeit mit der Vorstellung von Zeit, dem Zeiterleben,
zeigt sich die europäische Musik als mächtige Opposition der europäischen Kultur allgemein: über
Jahrhunderte - bis heute - wird die Zeit im europäischen kulturellen Mythos als Raum dargestellt
(ja sogar die Uhr an sich) und grob als eine Art objektives (von nichts abhängige) Millimeter-Papier
postuliert (wenn auch nicht in der modernen Physik). Sollte irgendwann ein Interesse für mögliche
Zeitstrukturen und Zeitmodelle aufkommen, wird sich zeigen, dass Musik Jahrhunderte lang
unterschiedliche Zeitkonzepte geschaffen hat. Für eine entsprechende Analyse der musikalischen
Werke wird man kaum Fechten können müssen oder verschiedene italienischen Dialekte
beherrschen (allerdings kann die Kunst des Reitens und des Tanzens hierbei sehr hilfreich sein):
die Vorstellungen von Bewegung, Statik, Zyklus, Linearität, Wiederkehr, Erneuerung,
Prozesshaftigkeit, Sprunghaftigkeit, Beschleunigung, Verlangsamung, Gleichzeitigkeit,
Ungleichzeitigkeit, Verschiebung, Gleichmäßigkeit, Ungleichmäßigkeit werden sich bei jedem
bilden, der mit der europäischen Kultur zu tun hat, wie auch z. T. bei jedem Hörenden überhaupt -
dank den physiologischen (Atem, Herzschlag) und motorischen (Gehen, Laufen, Stehenbleiben…)
Erfahrungen.
Die beiden prinzipiell unterschiedlichen Modelle hier sind: das asynchrone, das sich an dem
Pluralismus der gleichzeitig gegebenen Maßstäbe und Bezugssysteme orientiert (polymetrische -
ursprünglich vokale - Polyphonie der Renaissance) und das synchrone, das eine allgemeine,
objektive Zeit voraussetzt, wie im Tanz (Pantänzerische Barock-Epoche mit ihrer gewissen
Neigung zum Mechanischen… allerdings verwendet Bach in seinen Choral-Bearbeitungen auch
das erste Modell) und Marsch (romantische Mythologie des Heroischen).
In dem uns näheren (Newtonschen) synchronen Modell (die ihm entsprechende Musik bleibt noch
ein aktuelles Element der westlichen Kultur) kann man weitere vier Modelle unterscheiden: das
konzentrische, oder Bachsche (die Zeit wird als Bewegung vom unbeweglichen Zentrum zur
ständig veränderbaren Peripherie vorgestellt), das lineare, oder Beethovensche (dieses Modell ist
die Grundlage des europäischen kulturellen Mythos’ der neuen Zeit mit seinen Vorstellungen vom
historischen Prozess, Progress, Evolution; Mozart und Haydn schaffen eine Art Synthese dieser
beiden Modelle), das vertikale, oder Schubertsche (die individuelle, „subjektive „ Zeit entfaltet sich
vertikal zu der zielgerichteten Linie der historischen Zeit, wie ein Traum oder eine Vision), und das
mystische, oder Brucknersche (die Zeit kann stehen bleiben für einen Mystiker, der das
Wesentliche betrachtet). In wieweit diese Modelle für den heutigen wissenschaftlichen Diskurs
aktuell sind, hängt davon ab, welche Rolle dem Betrachter zugeschrieben wird.
Sehen wir ein Kunstwerk als eine Art Möglichkeit, Herausforderung, Appell an die Wahrnehmung,
so können wir es als ein Abbild, Abdruck der Wahrnehmung betrachten. So erkennen wir die
Bedürfnisse der Wahrnehmung (wie komplex, intensiv, differenziert, emotional beladen, assoziativ
reich - kurz, wie interpretierbar - muss das Werk sein, um den Prozess der ästhetischen
Wahrnehmung zu initiieren), wie auch die Sprache der Wahrnehmung vor der verbalen Sprache,
von ihr unabhängig (wie muss das Werk sein, um die Vorstellung vom Witzigen, Lächerlichen,
Erhabenen, Harmonischen, Chaotischen, Schönen, Hässlichen, Traurigen, Festlichen,
Lebendigen, Mechanischen, Toten… hervorzurufen) -, wie auch die strukturellen Vorstellungen
(Wiederholung, Änderung, Variante, Beziehung, Kontinuität, Sprunghaftigkeit, logische
Einheitlichkeit, paradoxe Einheitlichkeit, Offenheit, Geschlossenheit, Gesetzmäßigkeit, Freiheit,
Zufall…).
Eine solche Analyse ist nicht nur für die Wahrnehmungs-Wissenschaften (Neurologie,
Psychologie) interessant, sondern kann auch Gedanken an das Modellieren der (menschlichen)
Wahrnehmung hervorrufen.
Welche Eigenschaften hätte eine künstliche Intelligenz gewonnen, wenn sie die Fähigkeit hätte,
die Musik in ihrer Wahrnehmung zu schaffen (ob als Klang oder auf eine andere Art vermittelt)? …
Auf jeden Fall könnte man dann von ihr mehr Respekt dem menschlichen Geschlecht gegenüber
erwarten. Es findet sich wohl kaum ein besseres Material als elementare Musikbeispiele (zunächst
auch nur rhythmische), um die Fähigkeit zu entwickeln, nach Gesetzmäßigkeiten in einem
Informationsfluss zu suchen; auch für die Arbeit an der Synthese des Emotionalen mit dem
Intellektuellen ist die Musik das ideale Material. Schließlich ist es einfach interessant zu erfahren,
was so ein optimierter Mensch (mit Notwendigkeit - eine Persönlichkeit) aus der Musik für sich
gewinnen wird, was genau er hören wird. Vielleicht kann man auch eine Art pessimistische
Hoffnung an das Weiterleben der musikalischen Tradition - der höchsten Leistung der Menschheit
- mit diesem Thema verknüpfen…
…Was aber passiert mit der Musik, die sich außerhalb ihrer Umwelt befindet (also außerhalb der
kreativen und vorbereiteten menschlichen Wahrnehmung)? Ohne ein Bewusstsein, in welchem sie
sich realisieren können, bleiben die Notenzeichen nur eine Möglichkeit, Code, Flecken auf dem
Papier, dabei darf man die Wichtigkeit der mündlichen Tradition nicht unterschätzen, die heute
schon am Rande des Verschwindens steht, ohne sie sind die Zeichen unvollständig. Die Sprache
stirbt mit dem letzten Menschen, der sie gesprochen hat.
Und was ist eine Musik, die niemand hört, aus dem Blickwinkel eines Physikers? Komplexe
Schwingungen? Ist sie ein einheitliches physisches Objekt, und wie beeinflusst dieses den
Universum als System?
Kann man die im Vakuum gespielte Musik als reinen Gedanken, materieloses Wesen betrachten?
…Auf jeden Fall sind all diese Fragen (die Beziehung der Musik mit der „Zeit an sich“, mit dem
Bewusstsein und Unterbewusstsein, mit dem Universum „unabhängig vom Menschen“) wichtige
Vorstellungen für die musikalische Semantik, die direkt mit der rituellen Natur der Musik zu tun
haben.
9 (Die semantische Analyse der Musik ist die Analyse des Sematisierungs-Prozesses auf drei
folgenden Ebenen: der Ebene der fundamentalen Parameter, der Ebene der formalen Strukturen
und ihren Beziehungen und der Ebene der durch den kulturellen Kontext wie durch die individuelle
Erfahrung bestimmten Assoziationen, Zeichen und Symbolen).
Was sind die Instrumente der semantischen Analyse (im Idealfall - eines Gespräches von Kennern
und Liebhabern der Musik oder eines Lehrers mit seinen Schülern -, aber durchaus auch als
geschriebener Text denkbar)?
Fruchtbar ist die Vorstellung von der Interpretierbarkeit als einer „Messeinheit“ für die ästhetische
Intensität eines Werkes.
Die wichtigste Vorstellung aber ist die von der Semantisierung. Gemeint ist der Prozess der
Bedeutungszuschreibung (formale Strukturen inklusive), der die Wahrnehmung während des
Hörens (Lesens usw.) vollzieht -, also eigentlich die Wahrnehmung=Interpretation als ästhetisches
Erlebnis an sich. Ohne Semantisierung - ohne der aktiven Wahrnehmung - ohne den „Kopf des
Zuhörers“ - gibt es auch keine Musik, der Klang bleibt ein (angenehmes oder unangenehmes)
Geräusch. Als fundamentale Parameter treten die musikalisch relevanten Klangcharakteristika auf:
Lautstärke, Tonhöhe, Klangfarbe, Artikulation sowie Geschwindigkeit. Die Unterscheidung auf
dieser Ebene erfolgt in unmittelbarer Verbindung mit dem körperlichen Empfinden: die
Bewertungen schnell, langsam, gleichmäßig und ungleichmäßig orientieren sich am Atem, am
Puls, am Gehen, die Bewertungen hoch und tief orientieren sich am Sprechen und Singen
(Spannung der Stimmbänder, Atemverteilung), die Bewertungen lang und kurz sind mit der
motorischen Erfahrung verbunden (Zeitmessung), aber auch mit dem Reden und dem Tasten,
usw. Diese Unterscheidungen sind formale Unterscheidungen der Grundparameter
(Formalisierung) und noch kein ästhetisches Erleben, machen aber das ästhetische Erlebnis
möglich. Ohne Sematisierung geht es aber auch hier nicht: es gibt kein „Langsam“ oder „Schnell“
an sich, es ist immer eine Interpretation der Wahrnehmung, die sich hier an den physiologischen
Gegebenheiten orientiert, aber auch nicht frei von kulturellen Einflüssen bleiben kann. Man könnte
einen Kreis der Bedeutungen entwerfen, die sich in der europäischen Musik von Anfang an mit
diesen Parametern verbinden (das dualistische Modell - vom Dunklen, Finsteren, Bedrohlichen,
Angespannten bis zum Hellen, Durchsichtigen, Verklärten, Tröstenden). Es gibt recht wenige
Komponisten, die gegen die Semantik, die sich traditionell mit Lautstärke, Tempo, Klangfarbe,
Konsonanz-Dissonanz-Bewertung, räumlichen Vorstellungen (ab- bzw. aufsteigende Bewegung),
Gleichmäßigkeit und ihre Verletzungen (Beschleunigung, Verlangsamung, Anhalten der Pulsation)
verstoßen, sie vermeiden, erneuern, grundsätzlich umdenken - das ist besonders auffallend in der
Musikavantgarde des 20. Jahrhunderts von Schönberg und Varese bis Lachenmann und seinen
Epigonen, die reflexionslos die Semantik der Grundparameter in ihrer Musk übernehmen. Als
Komponisten, die die Grundparameter umsemantisieren, kann man Berlioz, Ives, Xenakis oder
Feldmann erwähnen; bei einer solchen Umsemantisierung kann sich auch eine für die
europäische Musik so grundlegende Vorstellung wie der Kontrast verloren gehen.
Eine detaillierte semantische Analyse sollte man am besten eben mit dem Betrachten der
fundamentalen Parameter beginnen, die eine Art axiomatisches Koordinatensystem bilden: ob
und in welche Richtung wird die Semantisierung an den Achsen laut-leise, langsam-schnell, hochtief,
wohlklingend-dissonant, dicht-leer, lang-kurz, gleichmäßig-ungleichmäßig vorausgesetzt. Man
braucht nicht die genauen verbalen Charakteristika suchen, aber eine allgemeine dualistische
Vorstellung ist möglich und wichtig. Lautstärke, extreme Lagen, Klangfarbe, Artikulation sind
besonders von Bedeutung in der Musik der Romantik und späteren Zeit, die auch nach großen
Orchesterbesetzungen verlangt oder sich moderner Tontechnik bedient. In der Musik des Barocks
und der Renaissance dagegen spielt z. B. die tatsächliche Lautstärke keine Rolle, solange man
sich die Opposition Solo-Tutti vorstellen kann (auch mit kleinen Besetzungen klar darstellbar),
auch die Größe des Tonumfangs ist weniger wichtig als die Vorstellung von der Richtung der
melodischen Bewegung (auf- oder abwärts): hier also wird vom Hörenden mehr erwartet als nur
physiologisch bedingte Sensibilität für Lautstärke oder Tonlage.
Die Analyse der Semantik der Grundparameter wird organisch in die umfassende Analyse eines
Werkes bzw. auch eines kompositorischen Stiles integriert (wie z. B. die Semantik abrupter
Lautstärke-Wechsel oder allmählicher Steigerungen bei Beethoven) -, dabei können sich auch
solche historische Details wie die Änderungen im Instrumentenbau klären.
Die nächste Etappe nach der Formalisierung kann man als Ontologisierung bezeichnen. Gemeint
ist selbstverständlich nicht eine chronologische Folge, sondern lediglich die Höhe der
Individualisierung, Komplexität und Kultur-Abhängigkeit der der Wahrnehmung gestellten
Aufgaben; während der Analyse wird allerdings diese Reihenfolge auch chronologisch
besprochen. Der Wahrnehmung wird angeboten, ein Werk als eine Einheit zu erleben, als ein
Antlitz, ein individuelles Wesen, sodass all seine Elemente (und ihre Zahl ist desto größer je feiner
und differenzierter die Wahrnehmung ist) eben als seine Elemente erscheinen, Vertreter und Träger
der Ureinheit, Teile eines Ganzen, dessen Summe nicht dem Ganzen gleicht. Die Wahrnehmung
„jagt“ nach Details, die es erlauben, Gesetzmäßigkeiten, Strukturen und Beziehungen zu
entdecken bzw. dem Wahrgenommenen zuzuschreiben.
Wiederholung, Änderung, Ähnlichkeit, Unterschied, Variante, Erneuerung, Kontrast, Entwicklung,
lineare Bewegung, zyklische Bewegung, Prozesshaftigkeit, Steigerung, Entspannung,
Gleichzeitigkeit, Nicht-Gleichzeitigkeit, Hierarchie, gegenseitige Abhängigkeit, Verbindung,
Abgrenzen, Gegenüberstellung, Ein-und-dasselbe-sein, Vergleich… all diese Vorstellungen sind
Instrumente der ontoligisierenden Semantisierung, werden auf das Wahrgenommene projiziert.
Genauso werden die räumlichen Vorstellungen einbezogen, die dabei helfen, eine Musikalische-
Form-Vorstellung als eine strukturell differenzierte Einheit zu bilden (Grenzen, Abschnitte,
Proportionen, Symmetrie, Aufteilung…). Schließlich aber kann keine Ontologisierung in der
europäischen Musik (und darin kann man ihre wichtigste besondere Eigenschaft sehen)
stattfinden ohne einen ausgeprägten Sinn für Harmonik, ohne das Vermögen, die harmonischen
Beziehungen als ein Gravitations-System zu erleben. Das Streben der Dominante zur Tonika kann
man in der Musik nicht messen, aber freilich beim Scannen einer vorbereiteten Wahrnehmung.
Die vokale Polyphonie der Renaissance demonstriert uns, wie dieses grandiose Phänomen - die
musikalische Form - möglich geworden ist. In den Meisterwerken dieser Epoche scheint zunächst
alles in der Musik durch den literarischen Text bestimmt zu sein: die imitatorische Textur, die
Bewegung, die harmonische Intensität (die auf einer Art Dreiklänge-Kombinatorik basiert), die
Stimmführung (Bestimmung von Dissonanz und Konsonanz und deren Beziehungen), die Melodik
(Bewegungsrichtung, Abriss, Rhythmus). Der Raum für die semantische Analyse ist hier schier
unendlich. Vom literarischen Text abhängig ist scheinbar auch die Motetten-Form: die Anzahl der
Abschnitte, ihre Beziehungen sind durch seine Struktur und seinen Inhalt bestimmt. Und doch
stellt sich heraus, dass so eine Motette, unabhängig vom Inhalt, ob religiös oder profan, einfach
instrumental aufgeführt werden kann, ohne jeglichen Bezug zum Text, zum Wort. Seine
Interpretierbarkeit wird dabei sogar höher, die Wahrnehmung bekommt neue spannende
Aufgaben. Man könnte fast sagen, dass die Spielregeln komplexer werden, und ohne das
Spielerische ist auch keine Kunst denkbar -, in der europäischen Musik ist dieses Spiel aber so
eng mit dem Wesen der Kultur und der Persönlichkeit verbunden, dass es zu einem Ritual, einem
geistigen Tun wird.
Die - faszinierende! - Möglichkeit für die Wahrnehmung, so eine polyphone Fantasie (eine
instrumental dargebotene Motette oder eine im entsprechenden Stil geschaffene
Originalkomposition) zu ontologisieren ist vor Allem mit der Bewegung der Harmonie verbunden,
von einer Kadenz zur anderen, durch eine Kette von spannungsvollen Harmonien zu ihrer
Auflösung. Die polyphone Textur (teilweise auch schon homophone) wird quasi gleichzeitig mit der
harmonischen Bewegung geboren, und Akkorde werden zwar als Summe melodischer Linien
wahrgenommen, ihre Folgen, Fortschreitungen bestimmen aber das, was man als Atem der Form
wahrnimmt. Dabei braucht man hier noch nicht den abgeschlossenen Raum des Quintenzirkels,
die Motteten-form entfaltet sich in einem prinzipiell offenen Raum.
Danach, wenn das Interesse an den klar vorstellbaren formalen Strukturen wächst, werden auch
die dafür notwendigen Voraussetzungen perfektioniert. Zunächst wird das Zeitkonzept
grundsätzlich vereinfacht: der zeitliche Pluralismus wird durch die Synchronität, ein für die
gesamte Textur einheitliches Metrum ersetzt. Dann werden auf der Basis des einheitlichen
Metrums werden größere symmetrische, quadratische Strukturen aufgebaut (Taktgruppen - von
einer Kadenz bis zur nächsten): die Prinzipien der Tanzmusik, die schon in der Renaissance
entwickelt wurden, werden in der „pantänzerischen“ Barock-Epoche bis ins Unendliche
weiterentwickelt und verfeinert. Schließlich, und das ist das Wichtigste, wird das Klavier
„wohltemperiert“-, und zwar nicht im Sinne einer Klangschönheit (sie wird ja sogar geopfert),
sondern im Sinne der Vorstellung eines idealen gleichmäßigen, abgeschlossenen Raumes: die
Schöpfung des tonalen Systems wird vervollkommnet als ein komplexer statisch-dynamischer
Raum, der sich um die zwölf (eigentlich - theoretisch - unzählbar vielen) Punkte gruppiert, von
denen jeder gleichzeitig Zentrum und Peripherie dieses Raumes ist (alle drehen sich um alle). Die
Fähigkeit der Wahrnehmung, beim ästhetischen Erleben zu ontologisieren (also die Vorstellung
von einem komplex strukturierten, differenzierten, beweglichen und doch einheitlichen und sich
selbst gleichen Ganzen zu entwickeln) erreicht ihren Höhepunkt in den Bachschen Fugen und
Sonaten-Zyklen (auch vokalen Zyklen) Haydns, Mozarts und Schuberts; diese Fähigkeit bleibt im
europäischen „kollektiven Bewusstsein“ zumindest bis Wagner und Bruckner erhalten, bei denen
das tonale System sich in seiner maximalen Anschaulichkeit entfaltet (man kann die gesamte
tonale Musik als ein Werk betrachten, das dem Erforschen und Erobern des idealen - imaginären -
realen - tonalen Raumes gewidmet ist). Die Musik des 20. Jahrhunderts wird dann dem Suchen
nach einem alternativen System gewidmet, eher fruchtlosem, denn alle anderen Elemente der
Musiksprache (Melodik, Textur und Technik der melodischen und texturellen Entwicklung, Form
unabhängig vom harmonischen Kontext, und Harmonik als Klangfarbe - unabhängig von der
Form) werden als mehr oder weniger unverändert in ihrer traditionellen Semantik gedacht.
Diese Elemente werden als Drittes betrachtet, dabei muss man sich immer vor Augen halten, dass
es keine Ontologisierung an sich geben kann, alle Gesetzmäßigkeiten und Strukturen sind immer
Gesetzmäßigkeiten und Strukturen von Etwas. Dieser Abschnitt der Analyse kommt als letzter,
weil das, was hier besprochen wird, gänzlich mit dem kulturellen Kontext zusammenhängt, mit der
Verwurzelung der individuellen Wahrnehmung in diesem Kontext und in ihrer individuellen
Erfahrung. Semantisierung ist hier buchstäblich das Zeichen-Schaffen, Bedeutung-Zuschreiben,
es geht um Assoziationen, Symbole, Zeichen, Allegorien, Bilder, emotionale Zustände, die beim
Erleben eines Werkes statt finden. Selbstverständlich - das wiederholen wir - läuft ohne ein
Bedeutungs-Schaffen weder die Formalisierung noch die Ontologisierung ab, es sind immer
bestimmte Emotionen da, die mit dem Erkennen, Verstehen, Entdecken (oder auch mit einem
Ärger des Nicht-Verstehens - oder umgekehrt der Enttäuschung von zu niedriger
Interpretierbarkeit) zu tun haben.
Die Analyse der assoziativen Semantisierung hat nicht nur mit Wahrnehmungs-Wissenschaften zu
tun, sondern nicht weniger mit Anthropologie und Kulturgeschichte. Hier kennen alle Fähigkeiten
hilfreich sein, und Kenntnisse der Philosophie, Literatur, christliche Tradition sind eine minimale
Voraussetzung. Dabei reichen bloße Kenntnisse nicht aus: entscheidend sind das Stilgefühl,
Sensibilität für Gattungs-Unterschiede, emotionale Verbundenheit zur christlichen Mythologie,
philosophische Fragestellungen, Sinn für das Erotische und einfach auch Sinn für Humor. Für die
Analyse sind auch unbedingt persönliche Assoziationen wichtig, jedoch ohne die traditionellen
Zeichen und Symbole wird man nicht auskommen.
Es lohnt sich dabei mit einer Gattungs-Lehre zu beginnen, mit der Gattung als Phänomen und den
Gattungen der europäischen Musik mit ihren im Alltag verwurzelten Voraussetzungen. Man kann
die Frage nach der Gattungsquelle bezüglich fast jeder Ebene und jedes Elements eines Werkes
stellen (auch unabhängig von der im Titel angekündigten Gattung), bei der Analyse seiner
rhythmisch-melodischen Elementen, der Klangfarbe, der Textur und sogar der formalen
Strukturen. Dabei sollte man zwei folgende Themen behandeln.
1. Die Beziehung zwischen Musik und Wort: Sprachintonation (ihre Semantik und emotionale
Intensität), Rhythmus und Melodik einer Sprache, musik-formale Parallelen zur Sprach-
Grammatik. Weiter wird das breite Spektrum der Beziehungen von bestimmten Inhalten (sakrale
Texte, Hymnen, Psalmen, Liebeslieder, Chansons, lustige Lieder, Spottlieder, militärische Marsch-
Lieder usw.) zu allen Elementen der Musiksprache analysiert, von grundlegenden bis zu unendlich
feinen und komplexen Beziehungen von Musik und Text bei Lasso, Gesualdo, Monteverdi, Schütz,
Bach, Mozart, Schubert, Schumann, Wolf oder Berg.
2. Die Beziehung zwischen Musik und Geste, angefangen bei der Geste als einem Element der
Rhetorik angefangen bis zur unendlichen Vielfalt der tänzerischen Posen und Gesten mit ihren
mehr oder weniger festgelegten Entsprechungen in Rhythmus, Melodik, Textur aber auch Form
(quadratische Periodizität).
Ferner wird die Semantik der Harmonik besprochen: harmonische Gravitationen als Phänomen,
die Vorstellung von Dissonanz und Konsonanz, die Semantik einzelner Akkorde, harmonischen
Fortschreitungen und harmonischen Funktionen. Bei dem Gespräch über die formbildende Rolle
der Harmonik taucht die Ontologisierungs-Problematik wieder auf, dabei kann man das Potenzial
von Kadenzen, Sequenzen, Abweichungen, Modulationen als Zeichen betrachten. Es können
sowohl die „allgemeinen“ harmonischen Wendungen besprochen werden als auch die
individuellen und außergewöhnlichen, wie bei Schubert, Berlioz, Bruckner oder Mussorgsky
(interessant dabei kann auch das Thema harmonische Inflation werden, wie sie bei Richard Strauß
u. A. statt findet).
Schließlich, als komplexeste und allgemeinste Frage, wird die Semantik der Form betrachtet. Hier
würde ich die Vorstellung vom Atem als zentrale Kategorie verwenden: der individuelle, emotional
und intellektuell beladene, statische und zugleich dynamische, bewegliche und lebendige
Zeitraum, das in der Vorstellung des Wahrnehmenden statt findet - als eine Synthese von
einerseits harmonischen, metrischen, melodischen, texturellen, und andererseits strukturellen
Ebenen.
Jedes gelungene Werk der europäischen Musiktradition ermöglicht der individuellen
Wahrnehmung jedes Mal von Neuem diese Synthese zu schaffen, sich mit der Beziehung von
diesem konkreten Material und dieser konkreten Form auseinanderzusetzen, mit der Beziehung
des Gesamtkonzepts zu seinen Elementen - und so auch die metaphysische Problematik der
eigenen Existenz unmittelbar zu erleben.
Die Modelle der Zeit, der Persönlichkeit, der Geschichte, der Gesellschaft, des Universums
werden hier sichtbar bzw. hörbar - bzw. denkbar… Dabei wird die Einheitlichkeit eines Werkes zu
Beginn des 20. Jahrhunderts aus einem Axiom zu einem Problem, sie wird bezweifelt und kann
heute fast schon als ein Anachronismus, eine Museums-Rarität erscheinen.