Was macht ein Musikstück in meiner (unserer?) Vorstellung, in meiner Wahrnehmung zu einem
lebendigen Wesen, einem Individuum, einem Antlitz? Wodurch erreicht man diese Verschmelzung
aller Elemente zu einer Einheit, zu dem Ganzen, das größer als die Summe aller seiner Teile ist?
Man erreicht sie durch die Spannung zwischen Form und Material, die komplexe und lebendige
Beziehung dieser zwei Ebenen, sodass jede von ihnen gleichzeitig die Hauptsache zu sein scheint –
und in dem Moment, wo die Form bloß als „Ort“ für das Material wahrgenommen werden kann,
oder umgekehrt, das Material als eine „Füllung“ der Form, geht das einheitliche Ganze verloren und
wird höchstens zu einer „Abfolge von schönen Stellen“ oder zu einer guten Schularbeit. In der
tonalen Musik ist Harmonik ein Bindeglied zwischen den beiden Hauptebenen, von ihr hängen
Form und Material ab, und sie hängt von den beiden ihrerseits ab. Ein Komponist, der in Musik
denkt, muss alle drei Elemente in seiner Vorstellung immer nebeneinander, in ihrer Beziehung, in
ihrer Gleichzeitigkeit haben, und so wird jedes seiner neuen Stücke zu einer Neuschöpfung,
Neuerfindung, einem Sonderfall, in dem jedes Mal das Potenzial dieser Synthese der einander
bestimmenden Ebenen sich aufs Neue manifestiert.
Insofern ist es nicht unproblematisch, die gewohnten schematischen Formbezeichnungen unkritisch
und unbegrenzt zu verwenden. Ein gelungenes Musikstück, sei es eine Invention, eine Allemande,
eine Fuge, eine Fantasie, ein Variationszyklus, ein Rondo, ein Lied oder eine Sonate, eröffnet einem
vorurteilsfreien Hörer seine Gesetzmäßigkeiten, seine innere Struktur schon von selbst, indem es
offen- sichtlich macht, aus welchen Abschnitten es besteht und wie diese Abschnitte sich auf
einander beziehen – dafür muss der Hörer nur sensibel und eingeweiht genug sein, um die
Kadenzen wahrzunehmen, die Spannungen der Modulationen und Abweichungen zu spüren und das
Thematische in dem Textur-Fluss zu erkennen. Die Information, die das Vergleichen vieler Stücke
mit sich bringt, ist bereichernd, aber nicht notwendig; in der ganzen Fülle an
Sonatenhauptsatzformen bei Haydn, Mozart und teilweise Beethoven kann man kaum zwei Sätze
finden, die einem und demselben Schema folgen (also genauso wie bei Fugen Bachs) – so wie es
nachher in der romantischen Sekundärliteratur der Fall ist, ganz zu schweigen von der Unmenge
akademischer Schularbeiten. (Allerdings gibt es eine Ausnahme: die meisten Klavierkonzerte
Mozarts lassen sich typologisieren und schematisch beschreiben, wobei aber innerhalb dieser
Gruppe sich auch eine wunderbare Variabilität zeigt).
Sogar das einzige allgemeine Prinzip, das man für alle in der Sonatenhauptsatzform geschriebene
Stücke nennen könnte, nämlich das, dass ein zweites Material (das selbstverständlich auch mit dem
ersten melodisch identisch sein kann), das in der Exposition in einer fremden Tonart erscheint, in
der Reprise unbedingt in der Haupttonart erklingt, wird z.B. in Haydns Quartett B-Dur (op. 64 Nr.
3) verletzt: die Melodie, die sich eindeutig als Seitenthema identifizieren lässt, wird in der Reprise
einfach weggeschnitten! Diese unendliche Vielfalt von Abweichungen von einer imaginären
Invariante, die vielleicht auch gedanklich gar nicht nötig ist, findet man in allen Formen der
Klassiker, und nicht nur bereits in einfachen Liedern, sondern sogar in den Perioden – den kleinsten
Formeinheiten, die fast nie zu einem selbstständigen Stück erwachsen (erst bei Romantikern).
... Über die wunderbare Möglichkeit, an musikalischen Beispielen, wie z.B. an Bachs Fugen, das
komplexe Modell der Beziehungen von Gesetz und Freiheit zu lernen, habe ich schon an anderer
Stelle versucht zu schreiben. Hier möchte ich nur eines betonen: die Ausdruckskraft der Form, ihre
sprechende Klarheit, ist jedes Mal kontextbedingt und von einem allgemeinen Schema unabhängig.
Die Form soll sozusagen hier und jetzt offensichtlich sein, sich mit diesem bestimmten Material
auseinandersetzen – wie man sie nachher nennt, spielt keine Rolle. Ein einfacher A–B–A-Satz kann
plötzlich durch eine lange Coda (auch manchmal mit neuem Material!) ganz verändert werden, ein
Variationszyklus kann sich in einer Durchführung auflösen und klare Sonaten-Züge bekommen,
eine Einleitung kann später zum Gegenstand einer intensiven Entwicklung werden – und so weiter
und so fort – wichtig ist nur, dass das alles klar wahrgenommen und interpretiert werden kann.
Hierzu möchte ich nur kurz ein Beispiel anführen: das Allegretto ma non troppo aus dem Quartett
op. 95 von Beethoven. Es hat drei thematische Elemente: das absteigende Motiv der Einleitung mit
sei- ner metrischen Ambivalenz, das liedhafte – eher hymnushafte – erste Thema und die Fuge. Das
ist kein Fugato, sondern eine vollständige Fuge mit komplexer Entwicklung, die den größten Teil
des Satzes ein- nimmt. Das ist für sich genommen schon ganz eigenartig: die Fuge nicht als
selbstständiger Satz, sondern als ein eigenständiges Element des Satzes, aber auf keinen Fall etwa
ein episodisches Fugato, welches ein thematisches Element entwickelt. Ab und zu kombinieren
auch Haydn und besonders Mozart eine Fuge mit homophonen Elementen, so wie auch Beethoven
selbst z. B. in Opus 106 oder 133; in der Sonate op. 110 bilden die Fuge und das Arioso dolente
zusammen einen „Mega-Satz“. In dem Quartett op. 95 aber scheint die Fuge zuerst untergeordnet zu
sein, etwa wie ein B-Teil der dreiteiligen Liedform. Die Länge und die Komplexität der Fuge, die
verschiedene Entwicklungsphasen durchmacht, widersprechen diesem Gefühl, so wie der gesamte
Modulationsplan: sie fängt in D-Dur, der Haupttonart, an, was sofort die Funktion des vorherigen
Abschnittes quasi retrospektiv umdenken lässt: war das das Hauptmaterial oder nur eine erweiterte
Einleitung? Diese eindeutige Zweideutigkeit bleibt bis zum Ende: die Fuge ist Mittelteil des Satzes,
aber gleichzeitig ist sie das Wesentliche, sodass das Hauptmaterial eher eine Umrahmung der Fuge
wird. Dazu noch ein verwirrender Moment: eine klare Schlusskadenz in As- Dur in der Mitte der
Fuge, nach der das Material der Cello-Einleitung wieder erscheint. Hier könnte das Ende der
Exposition einer Sonatenhauptsatzform liegen, und die weitere Entwicklung kann tatsächlich zuerst
als Durchführung wahrgenommen werden, wird aber dann doch nicht als ein neuer Abschnitt,
sondern als Fortsetzung der Fuge identifiziert. Die Züge der Sonaten-Durchführung werden aber
auch immer spürbarer, bestimmen letztendlich die Entwicklung der Fuge (die polyphone Textur
wird durch die homophone ersetzt) und beeinflussen auch die Reprise des A-Teils, in der das Motiv
des Fugenthemas auftaucht. Diese Reprise wird überhaupt zu einer Apotheose, einem Höhepunkt
des Satzes, sodass der Eindruck der „Umrahmung“ sich mit dem Eindruck einer Wiederkehr und
mehr noch – einer erhabenen Synthese – vermischt.
Wie eigenartig diese Form ist, so einmalig ist der Charakter dieser Fuge: es ist keineswegs ein
objektivierender Schlusssatz, wie es sonst fast immer die Semantik der Fuge als Gattung bei
Beethoven ist (selbst in der Coda des Finales desselben Quartetts), sondern etwas wie eine
melancholische, lyrische, konzentrierte, innige Elegie, aber auch nicht eine Klage, wie die auch sehr
ungewöhnliche Fuge aus dem ersten Satz des Opus 131.
... Möchte man diesen Satz zu einer bestimmten schematischen Art oder Gattung zählen, wäre das
reine Willkür. Die einzige Reihe viel- leicht, in die er passt, ist die Reihe der 90-iger Opera
Beethovens mit ihrer ganz spezifischen Frische, Lyrik und freien Erfindungskraft. Die Form des
Satzes würde ich einfach unbenannt lassen, dabei bleibt sie für die unmittelbare Wahrnehmung
glasklar und höchst ergreifend und lässt sich auch leicht beschreiben mit allen ihren Beziehungen zu
den traditionellen Form-Modellen und in ihrer Unnachahmlichkeit. Dieses Beispiel ist keine
Ausnahme, sondern eher eine Regel für die Musik der großen Meister (schon der dritte Satz
desselben Quartetts könnte als weiteres Beispiel dienen: Eine Da-Capo-Form wird durch die
zusätzliche Wiederholung des Trio prinzipiell verändert, das Konzentrische in diesem Form-Modell
wird somit zerstört und durch das Lineare ersetzt, der Hauptteil und das Trio treten in eine
unmittelbare konfliktvolle Interaktion!)
Auch eine detaillierte Analyse soll sich mit der Beschreibung dessen begnügen, was wo stattfindet,
also mit einer Demonstration der Beziehung zwischen Form und Material (oben, in der
Beschreibung des Allegretto ma non troppo, habe ich über das Material nichts gesagt, sondern nur
die Einzigartigkeit der Form besprochen – eine genaue Beschreibung der Melodik, Harmonik,
Textur und Formbau der drei Themen und einzelnen Abschnitte wäre der nächste Schritt). Die
semantische Frage warum (welchen Sinn kann diese konkrete Beziehung von dieser konkreten
Form zu diesem konkreten Material haben) lässt sich durchaus auch stellen und vielfältig
beantworten, nur sollte man von den Antworten kein wissenschaftliches Ergebnis erwarten.