Boris Yoffe English Deutsch Русский
Einige Bemerkungen zu Tonalität und Modalität. Ein Aspekt der Harmonik bei Mussorgsky

Die Gravitation in der modalen Musik ist Ausdruck der Beziehungen der Stufen einer Tonreihe, die
Gravitation in der tonalen Musik ist Aus- druck der Beziehungen der Tonarten des Quintenzirkels.
(Übrigens, geht man von dieser Prämisse aus, wird die Anzahl der tonalen Funktionen – als Tonika,
Dominante und Subdominante bekannt – immer drei und niemals nur zwei sein). Diese Gravitation
(wie allgemein die Musik als Musik – und nicht nur eine Summe von Klängen) befindet sich im
Kopf des Zuhörers, man sollte sie nicht mit Akustik oder Mathematik erklären wollen. Ihre
„objektiven Gesetzmäßigkeiten“, wenn es sie gibt, beschreiben keine „absolute Dissonanzen und
Konsonanzen“, sondern die Voraussetzungen unserer urteilenden Wahrnehmung. Wir sind es, die
der Stufe in der Tonreihe eine Bedeutung zuschreiben, und das ist am Ende die Gravitation oder
ganz allgemein – die Beziehung. Unter einer tonalen Gravitation verstehe ich nicht die Beziehung
T–D, sondern die Präsenz von allen Tonarten des Quintenzirkels in einer Tonart. Genau das macht
die tonale Musik so eigenartig. Aber in den Fällen, wo es eine bestimmte strukturierte Tonreihe gibt,
tendiert die Wahrnehmung dazu, in dem Wahrgenommenen Strukturen zu suchen, den Elementen
des Ganzen Funktionen zuzuschreiben. D.h. alle Töne jeder Melodie befinden sich – für die
Wahrnehmung – in einer ständigen Spannung untereinander, in einem ständigen Spiel der
Gravitationen, der Funktionen stabil und unstabil – ob konstanten oder wandernden – hängt von der
jeweiligen Ästhetik ab (z.B. kann man ein Leben lang auf den schwarzen Tasten des Klaviers – auf
der Reihe der Pentatonik – verweilen, ohne sich in andere Räume bewegen zu wollen).
Mehrstimmigkeit ist dann möglich, wenn es einen gemein- samen Nenner zwischen Stimmen geben
kann, einen gemeinsamen Punkt, in dem sich die Stimmen rhythmisch und harmonisch treffen
können. Was als absolute Standfestigkeit, absolute Konsonanz wahr- genommen wird, ist nicht
mathematisch oder physiologisch bedingt, sondern kulturell. Aber die Vorstellung von der
Standfestigkeit (und folglich von der Instabilität und folglich auch von der Gravitation) an sich ist
unentbehrlich. Gäbe es sie nicht in der einstimmigen Musik, so hätte die mehrstimmige nicht
entstehen können.
Das modale und das tonale Prinzip widersprechen sich also nicht und können durchaus in einem
Musikstück parallel existieren. Die Wahrnehmung sucht nach Regeln und findet diese beiden
Prinzipien, wobei das Tonale offensichtlich eine viel größere „Schulung“, Verwurzelung im
entsprechenden kulturellen Kontext verlangt.
Ein verwandtes Thema, das ich hier ansprechen möchte, sind geschlossene einheitliche Systeme.
Ich bin überzeugt, dass die gesamte tonale Musik die Realisierung, Vollendung, Entwicklung aller
Potenzen eines einheitlichen Systems ist, ein Kontinuum. Das heißt, sie ist wie ein einziges Werk,
das die Prinzipien des unendlichen und geschlossenen Universums des Quintenzirkels realisiert, der
wie ein Eisberg unter jedem einzelnen Werk – das einem der vielen sichtbaren kleinen Spitzen
gleicht – unsichtbar bleibt. An dieser Stelle möchte ich noch auf die Struktur dieses Universums
eingehen. Dieses geschlossene System habe ich „unendlich“ genannt, weil die Tonarten in einer
komplexen dynamischen Beziehung zueinander stehen (befindet man sich in einer Tonart, ist man
auf eine bestimmte Weise mit allen anderen verbunden), sich jedes Mal neu um jede neue Tonika

gruppieren, sodass sich auch die Töne ändern (die gleiche Temperierung ist einerseits eine not-
wendige Voraussetzung der Möglichkeit dieses geschlossenen Universums, andererseits aber ein

Kompromiss, der beim Singen oder den Streicher-/Bläser-Instrumenten durch die Benutzung der
reinen Temperierung, die eben für jede Tonart bekanntlich eigen ist, umgangen wird).
Ich glaube auch, dass die Semantik der Tonarten durch ihre Beziehung zu den zwei „Urtoniken“
bestimmt wird: C-Dur und d-Moll; das Gefühl der Einheitlichkeit, der Gravitation zu einem
Zentrum wird durch den Anfang des Stückes bestimmt, bezieht sich aber auch auf eine „Urebene“,
d.h. auf die für alle tonalen Werke, die letztendlich ein Kontext sind, gemeinsamen Urtoniken... Das
aber wäre ein Thema für eine weitere Forschung. Dieses tonale System hat sich nur als besonders

reich und vielseitig erwiesen, adäquat dem Individualisten der europäischen Kultur... Die tonale
Gravitation ist eines der wenigen allgemeinen Prinzipien, auf denen die gesamte europäische Musik
basiert (harmonische Gravitation, Metrum, Form, thematische Entwicklung – um nur einige zu
nennen), die sich seit dem Auftreten der Mehrstimmigkeit entwickelt und bei Bach ihre Vollendung
gefunden haben.
Selbst die Möglichkeit der musikalischen Form, wie wir sie verstehen, ist mit der Gravitation der
drei harmonischen Funktionen verbunden. In dem Schaffen von Bach und Mozart sehe ich ein und
dieselbe Etappe der Musikgeschichte, der Geschichte der Entwicklung dieses Systems, trotz ihrer
unterschiedlichen Ästhetik: die typische barocke Tanzform und die Sonatenhauptsatzform
realisieren das gleiche Schema (das zentrale Schema für die tonale Musik allgemein), auch wenn sie
es unterschiedlich (statisch und dynamisch) interpretieren.
In der modalen Musik ist alles anders, dort gibt es eine Struktur, und nicht ein System, was dem
Gefühl der Einmaligkeit und freien Variabilität entspricht. Mit anderen Worten, es ist vielmehr eine
offene Menge verschiedener Systeme, die verschiedenen Typen von Tonreihen entsprechen, als ein
allgemeines System. Das Vorhandensein einer Tonreihe (vielleicht auch einer aus Geräuschen ohne
fixierte Tonhöhe) ist die einzige Bedingung. Einige solcher Tonreihen sind sehr frucht- bar (wie die
Pentatonik), andere gelten manchmal nur für ein einziges Werk.
Wenn die These über die Verträglichkeit, Parallelität des Tonalen und des Modalen auch nicht
immer stimmen mag (als erste zweifelhafte Beispiele kommen mir die „absoluten Tonalisten“
Beethoven und Schumann in den Sinn), so ist sie doch für einige einzelne Bei- spiele ein besonders
fruchtbares Thema. Ich glaube, dass die eigen- artige Mischung dieser Prinzipien ein Fundament
des so geheimnis- vollen (scheinbar einfachen, aber so schwer analysierbaren) harmonischen
Denkens Mussorgskys ist. Die Harmonik von Mussorgsky passt viel weniger in das „tonale
Kontinuum“ als z.B. die Harmonik sei- ner großen Nachfolger Janácek oder Schostakowitsch. Ich
glaube, dass der Schlüssel hier in der Verbindung zweier verschiedener inhaltlicher und zugleich
ästhetischer, ja gar kultureller Momente liegt: der westlichen Musik und der Musik der orthodoxen
Kirche. Ich glaube auch, dass wir hier dem fruchtbaren Dilettantismus der Romantiker besonders
viel zu verdanken haben: die beiden Elemente hat Mussorgsky nicht systematisch zu verbinden
gesucht, sondern intuitiv, nach Gehör. Wenn ich so eine grobe Verallgemeinerung mache und von
der „orthodoxen Kirchenmusik“ und der „westlichen Musik“ spreche, so meine ich die Musik, die
Mussorgsky aus eigener Erfahrung gekannt hat und selbst als diese oder jene identifiziert hat. Das
Material, das er in bestimmten Stellen in seinen Opern oder den Programmmusik-Stücken für
„Russen“ und „Nicht-Russen“ benutzt, lässt keinen Zweifel daran, und das orthodoxe Kolorit ist
unmittelbar in den bestimmten harmonischen Fortschreitungen zu spüren. Das Besondere ist, dass
dieses modale Kolorit, das bei den meisten russischen Komponisten auch präsent ist und sich auf
das Kirchen-System der Glasy-Gesänge stützt, bei Mussorgsky eine zu große Rolle spielt, um nur
eine Färbung innerhalb des „normalen“ tonalen Raumes zu sein. Das ist ein modales System, bei
dem die entstehenden harmonischen Gravitationen sich auf ein „hier und jetzt“ begrenzen, ohne auf
eine absolute Tonika zu verweisen.
Die eindeutig tonalen „westlichen“ Stellen haben ihrerseits auch einen mehr oder weniger spürbaren
Beigeschmack eines stilistischen Zitats, und die Übergänge zwischen einer musikalischen Sprache
zur anderen können ganz unerwartet und überraschend sein, sodass ein neuer harmonischer Raum
zwischen den beiden Polen entsteht... Man denke nur an die Musik des Narren aus Boris Godunov,
die sicher keine Stilisierung ist, sondern die Stimme des Autors selbst... Die tonale Dramaturgie ist
bei alldem bei Mussorgsky wohl zu spü- ren, auch die „gewöhnliche“ Semantik der Tonarten, und
trotzdem ist alles wie auf einem anderen Fundament gebaut... Sogar die Bilder einer Ausstellung: da
spielt B-Dur die Rolle der Urtonika.

... Es verbindet sich alles bei ihm – die Form, die Textur, das Metrum mit einem eigenen, anderen,
fremden Gefühl der Harmonik.
***
Ein anderes Thema, über das ich auch in einem weiteren Aufsatz spreche, ist die Harmonik bei
Bruckner, in der ich eine besondere Art der Vollendung des tonalen Systems sehe. Das Gefühl, dass
sich jede Tonart als Tonika entpuppen kann, das seiner Harmonik so wesentlich ist, ist ein wichtiger
Teil seiner mystischen monotheistischen Ästhetik: es ist das bekannte Modell des Universums als
eine Sphäre mit dem Zentrum überall und der Peripherie nirgendwo.
***
... Welche Faktoren bestimmen die Tonarten-Semantik? Die historische Praxis (vor der Einführung
der gleichen Temperierung wurden die „unsauberen“ Tonarten in bestimmten Kontexten benutzt),
die Vorlagen der menschlichen Stimme („Stimmumfang-Semantik“) und die Klangfarben-Semantik
(verschiedene Instrumente, besonders die natürlichen Bläser, klingen ja in verschiedenen Tonarten
unterschiedlich)... Man könnte noch weitere Faktoren finden, auch außer- musikalische, wie z.B. die
Benutzung von Monogrammen. Aber auch in der temperierten Stimmung und für die modernen
ausgeglichenen Instrumente bleibt die Tonarten-Semantik lebendig und aktuell, bekommt vielleicht
sogar neue Dimensionen, wie bei Wagner und dessen Umfeld. Diese Semantik ist auf drei

verschiedenen Ebenen unter- schiedlich: das Schaffen bestimmter Komponisten (individuelle ton-
art-semantische Ebene), eine bestimmte Epoche (stilistische) und die gesamte europäische Musik

(allgemeine). Sie zu messen wäre gewiss problematisch, aber es gibt genug indirekte Hinweise auf
ihre Existenz; jeder Musiker kann sich hier auf seine eigene Erfahrung berufen.
Der wichtigste Faktor ist, glaube ich, eben die Zugehörigkeit zu dem einen gemeinsamen tonalen
Universum, für das ganz allgemein das Prinzip „das Zentrum ist überall, die Peripherie nirgendwo“
gilt – alle Tonarten sind vielseitig miteinander funktional verbunden und jede ist eine potentielle
Tonika.
Hier möchte ich eine Beobachtung beschreiben, die vielleicht ziemlich banal ist: es gibt eine Menge
Stücke, in denen, unabhängig von der Haupttonart, das C-Dur eine besondere Rolle spielt (als
Musterbeispiel würde ich die Siebte Symphonie von Bruckner erwähnen; oder man könnte die
Fünfte von Sibelius als ein Werk betrachten, das ganz dem Thema der versteckten Gravitation des
C-Dur gewidmet ist). Das Erscheinen von C-Dur ist oft mit der Kulmination verbunden, mit dem
Gefühl des Durchbruchs von etwas Verdecktem. ...Und das ist eigentlich meine zentrale Annahme
über die Basis der Tonarten-Semantik: Farbe, Charakter, Gestaltungsphäre jeder Tonart sind an sich
die selben, die man empfindet, wenn man sie mit C-Dur vergleicht; es ist ihre Beziehung zu C-Dur.
(Warum das so ist, warum aus- gerechnet C-Dur zu so einer Maßeinheit geworden ist, ist eine ganz
andere Frage). Bei meinem Versuch, dies an vielen Beispielen zu über- prüfen, habe ich bemerkt,
dass die Tonart-Semantik meistens nicht eindeutig, sondern ambivalent ist. Für die meisten
Beispiele hat mich die Einführung einer zweiten „Urtonika“, einer Moll-Tonika, nämlich d-Moll,
überzeugt. So wird jede Tonart quasi durch das Zusammenfügen dieser beiden Beziehungssysteme
bestimmt. Warum das d? Einerseits einfach deswegen, weil es am besten die konkreten Beispiele
erklären lässt... Das c als eine Moll-Urtonika kommt nicht in Frage, denn das Dur bliebe zu
dominant. Und das d in C-Dur ist die eigen- willigste, „gefährlichste“ Stufe. Außerdem spricht die
natürliche Temperierung dafür: die Sekunde C-D wäre in C-Dur/Moll und in D-Dur/ Moll
unterschiedlich, abhängig davon, was man als Tonika bestimmt.
***

Am Rande noch eine kleine Bemerkung zur Tonarten-Semantik in Mozarts Opern. Über die
großartige komplexe Tonart-Dramaturgie ist viel gesprochen worden, ich möchte hier nur ein Detail
erwähnen: der Übergang zwischen einem Rezitativ und der darauf folgen- den Nummer. Da könnte
man eine Reihe von Möglichkeiten auflisten: entweder endet das Rezitativ in der Tonart der danach
folgen- den Nummer oder in einer zu ihr naheliegenden Tonart (meistens in der Dominante), oder
aber in einer ihr weit entfernten Tonart, sodass die folgende Nummer als eine Überraschung
anfängt. Da spürt man unmittelbar die freie semantisch motivierte Bewegung innerhalb des
Quintenzirkelsystems.