Der Raum, in dem die musikalische Entfaltung stattfindet, ist nichts als die Zeit.
Dieses fruchtbare Paradox wird in verschiedenen Epochen, Ästhetiken, Stilen auf unterschiedliche
Weise konzipiert.
Seit Beethoven und teilweise bis heute versteht man einen musikalischen Text als in-eine-Richtunggehende
Entwicklung. Das klassische beethovensche Modell, mit dem er selbst praktisch in jedem
Werk arbeitet, ist in seinen Hauptzügen das gleiche wie im klassischen Roman: eine komplexe
Ausgangssituation, die auch der Anfang des Stücks ist, entwickelt sich bis zu einem logischen,
endgültigen Schluss hin, der auch das Ende des Stücks bedeutet; der Zuhörer erlebt unmittelbar, wie
das angekündigte Problem zu einer (und scheinbar einzig möglichen) Lösung findet; die
Komposition steht nicht die ganze Zeit unbeweglich da, wie ein Gebäude, sondern geschieht
während der Zeit des Zuhörens (das kann man sich linear vorstellen, aber auch wie eine
Spiralenbewegung, in der jede Wiederholung jeweils eine neue Ebene bedeutet).
Ein solcher Aufbau eines Musiktextes wird hauptsächlich durch das tonale System möglich.
Die Bewegung kommt durch Modulationen zum Ausdruck. Kadenzen markieren die Wendepunkte;
neue Tonarten bestimmen die Richtungen des Geschehens. Dabei kann man von zwei Arten von
Richtungen sprechen: die Bewegung nach vorne – das unmittelbare Geschehen, die Hauptlinie –
und die Bewegung zur Seite (zurück) – eine Unterbrechung, Halt, Retrospektion (Erinnerung). Mit
großer Sicherheit kann man die Bewegung in Richtung Dominant-Tonarten (III, V und VII Stufe)
mit der Bewegung nach vorne identifizieren, und die Bewegung in Richtung Subdominante (VI, IV
und II Stufe) – mit der Bewegung zur Seite. Versuche, diese Identifizierung mit historischen oder
physiologischen Argumenten zu begründen, wiederholen sich, man kann aber bei dieser
ästhetischen Frage kaum von Beweisen reden.
Auf jeden Fall kann man einen für Klassiker und Romantiker typischen Modulationsplan
feststellen; das nach-vorne-gehende, dominanische Modell der Musik Beethovens wird auch für die
nächsten Generationen von Zuhörern und Komponisten dominierend sein (von Mendelssohn und
Schumann bis Wagner und Skrjabin).
Allerdings ist das auf diesen Prinzipien liegende formale Modell schon bei Bach absolut präsent
(der Formaufbau nach T–D–S–T, der ein Merkmal des späten Barocks ist, bildet die Grundlage für
den größten Teil von Bachs Kompositionen und wird von ihm ausführlich durch- gearbeitet). Die
Barock-Ästhetik interessiert sich aber für eine ganz andere Art der Entwicklung: Die
gesetzmäßigen, abstrakten Grundprinzipien werden allmählich, von einer Ebene zur anderen, zu der
konkreten und komplexen Vielfalt des gegebenen Textes entwickelt, wobei jede neue Ebene eine
Konkretisierung, ein Kommentar und eine Verzierung des Vorherigen ist (was sich eben sehr gut mit
Architektur vergleichen lässt).
Die Modulationen, die im Barock als tragende Säulen dienen, lassen sich umdeuten und werden in
der Klassik und danach zu Hauptereignissen im Fluss des Geschehens. (Damit sind die Konditionen
für das Entstehen der Sonatenhauptsatzform gegeben). Es ist auch bei Mozart so, aber einen
paradoxen und ambivalenten mozartschen Text als chronologische und logische Folge zu verstehen,
ist nur eine der Interpretationsmöglichkeiten.
Man kann aber vier romantische Komponisten nennen, die von der gewöhnlichen Modulations-
Semantik abweichen. Bei Berlioz, der Programm und eigene Fantasie an Stelle abstrakter
musikalischer Grammatik bringt, verliert die Harmonie ihre grammatikalische Funktion und wird
als Farbe wahrgenommen; dabei ist seine Musik aber eines der besten Beispiele für nach-vornegehende,
erzählende Musik. Die geniale Intuition Mussorgskys entdeckt neue Möglichkeiten eines
Zusammenhangs zwischen Form und Harmonie, die ihren Platz in der modalen Musik des 20.
Jahrhunderts, vor allem bei den Impressionisten, finden. Bruckners Form ist alles andere als eine
nach-vorne- gehende Entwicklung, vielmehr ist sie vielleicht ein mystischer Auf- gang, wo der
Zuhörer von der Betrachtung einer Realität sprunghaft in eine andere wechselt. Zwar folgt Bruckner
dem klassischen Modulationsschema, es findet aber eine totale Umsemantisierung statt.
Wer inmitten des „beethovenschen“ Entwicklungsprinzips aufwuchs, mag die Musik Schuberts als
statisch, gleichsam auf der Stelle tretend, empfinden. An dieser Stelle sollte man sich mit der ganz
eigenartigen schubertschen Ästhetik befassen. Während sich bei Beethoven die Ereignisse
chronologisch entwickeln und in einen Schluss münden, der auch das Ende des Stücks bedeutet
(oftmals mit einem Abschiedsgruß), befindet sich der Zuhörer am Ende eines schubertschen Werkes
am Ausgangspunkt.
Bei Schubert ist der Aktionsraum die Psyche; die Einheit einer Komposition wird garantiert durch
die subjektive Intuition und nicht durch eine abstrakte objektive Logik. Schuberts Musik zieht eine
for- male Einheit in Zweifel; man könnte ihn als einen Mitbegründer der existentialistischen
Ästhetik bezeichnen; mir scheint, eine mögliche sinngebende Erklärung zur Form der schubertschen
Musik liegt in der formalen Anlage, wie sie ein Gedicht aufweist.
Schuberts Musik ist eher „subdominantisch“, was eine Bewegung ins Innere impliziert. Im größten
Teil seiner späten zyklischen Werke – Sonaten, Sinfonien, Trios, Quartette u. a. – stehen die
langsamen Sätze in subdominantischer Beziehung zur Haupttonart. Auch innerhalb einzelner Sätze
(und einsätziger Stücke, wie z.B. seine Impromptus) geht schon die erste Modulation zu einer
Tonart der subdominantischen Gruppe (im Fall einer Sonatenhauptsatzform erscheint so dann das
Seitenthema, und in der Subdominante endet auch die Exposition).
Ein erstaunliches Beispiel ist die Unvollendete. Die tonale Beziehung zwischen den Sätzen, der
Einsatz des Seitenthemas und die Durchführung des erstes Satzes, der Einsatz des Seitenthemas des
zweites Satzes – die Tonarten aller dieser entscheidenden Momente gehören der Sphäre der
Subdominante an; als einzige Ausnahme erscheint das Seitenthema in der Reprise (!) des ersten
Satzes in D-Dur, also in der dominantischen III. Stufe.
Das alles bildet selbstverständlich keinen Gegensatz zu der Theorie der Bewegungsrichtungen-
Semantik, sondern bekräftigt sie stark – solange wir nur die schubertsche Subdominantsphäre als
eine Bewegung zurück betrachten, eine Bewegung in sich selbst, in die Vergangenheit, in den
Traum etc. Was die Identifizierung der Bewegung nach vorne mit den Modulationen (oder auch
Abweichungen) in Richtung Dominante betrifft, da sieht es anders aus. Dabei tauchen auch einige
Spekulationen auf, die die Subdominant-Bewegung in einem anderen Licht zeigen.
Bevor ich aber meine Vermutungen hierzu formuliere, möchte ich noch ein anderes Thema
berühren: die Spezifika der schubertschen Melodik. Fragt man sich nach elementaren motivischen
Modellen der Themen und Melodien Schuberts, so kommt einem mit Sicherheit eine bestimmte
rhythmisch-melodische Intonation als Erstes in den Sinn. Das ist ein Motiv, das man schematisch
als: Viertel-Achtel-Achtel / Viertel-Viertel, mit Tonwiederholung im ersten, zweiten oder beiden
Takten beschreiben könnte. (Der Rhythmus ist mit dem Rhythmus des ersten Themas des Allegretto
aus der 7. Sinfonie Beethovens identisch.)
Dieses Motiv, manchmal „Rosamunde-Motiv“ genannt (wenn in der Melodie eine sinkende große
Terz zu hören ist), bildet in seinen verschiedenen Varianten die Grundlage für die Themen aus dem
Rosamunde-Zwischenspiel, dem Quartett a-moll (langsamer Satz), den Impromptus B-Dur und Ges-
Dur, dem Moment musical f-Moll op. 94, 5 (ein Beispiel für seine Benutzung als „RotationsMotiv“)
und dem Tod und das Mädchen sowie einigen anderen Liedern, der Klavierfantasie C-Dur
und anderer Werke.
Die zweite Hälfte dieses Motivs, also einfach die beiden Viertel mit wiederholtem Ton, ist
zweifellos der Kern für eine noch viel längere Reihe von Melodien (er kann in einem Dreier-Takt
genauso gut wie im Zweier-Takt erscheinen). Man könnte Themen nennen aus dem 1. und 4. Satz
der c-Moll Klaviersonate, aus dem 2. und 1. Satz des Es- Dur-Trios, dem Seitenthema des 1. Satzes
aus dem Quartett G-Dur, des 2. Satzes der Großen C-Dur Sinfonie, dem Impromptu As-Dur,
Moment musical f-Moll op. 94, 3, dem Atlant und aus vielen anderen Werken trotz aller
Unterschiede in der Semantik und in den Gattungsquellen (... Marsch, Volkstanz, Sarabande...). Es
gibt auch eine Reihe von Melodien, die „genetisch“ aus diesem Ur-Motiv stammen, wie z.B.
Themen, in denen statt einer Tonwiederholung eine Sekunden-Intonation kommt (die langsamen
Sätze aus der „Unvollendeten“, dem Trio B-Dur, dem Oktett), oder Themen, wo anstatt einer
zweifachen Wiederholung eine vierfache kommt (Moment musical c-Moll, Seitenthema aus dem 4.
Satz der C-Dur Sinfonie, Seitenthema aus dem 1. Satz des Trios Es-Dur, Finale aus der
Klaviersonate G-Dur u. a.).
Das Prinzip der Tonwiederholung bildet bei Schubert aber die Grundlage für eine noch viel größere
Anzahl von Melodien. Hier sollte man eigentlich nicht mehr von „Tonwiederholung“, sondern von
„Wiederkehr zu einem bestimmten Ton“ sprechen. Dieses Prinzip des Melodiebaus findet man kaum
bei Beethoven, Schumann, Brahms oder Mendelssohn; so sind aber fast alle bekannten
instrumentalen Melo- dien Schuberts aufgebaut: alle Themen aus dem 1. Satz der „Unvollendeten“,
dem 1. Satz und das Hauptthema aus dem 2. Satz der Großen C-Dur Sinfonie, die folgenden
Themen aus den vier letzten Klaviersonaten: c-Moll Sonate, das Hauptthema des 2. Satzes; G-Dur
Sonate, Haupt- und Seitenthema des 1. Satzes ; A-Dur Sonate, langsamer Satz, Seitenthemen des 1.
und 4. Satzes; B-Dur Sonate, Hauptthema des 1. Satzes –, und eigentlich fast alle anderen Themen
aus allen 4 Sätzen; dazu noch der langsame Satz aus dem Quintett C-Dur und viele andere Beispiele
(eines der erstaunlichsten Beispiele ist das Thema des dritten Teils aus dem Impromptu f-Moll, op.
post.142 (ab T.69).
Überhaupt ist das ein interessantes und durchaus kein banales Forschungsfeld, wir können es hier
aber nur berühren. Denn diese Methode der Wiederkehr zum selben Ton in der Melodie hat eine
logische Folge auf dem Gebiet der Harmonik, nämlich eine konsequente Arbeit mit der
Umharmonisierung des gleichen Tons (des „Leittons“ der Melodie). Als Beispiel können wir das
Hauptthema der Sonate G-Dur nehmen: hier wird offensichtlich die Tonart des 2. Teils des
Hauptthemas (T.10) – h-Moll – durch den Leitton der Melodie (Ton h) bestimmt. Genauso sieht es
in dem Hauptthema des 1. Satzes der B-Dur-Sonate aus, das übrigens auch eine einfache dreiteilige
Form ist (ungewöhnlich für eine Sonatenhauptsatzform!): B-Dur – Ges-Dur (mit Leitton b). Der
Modulationsplan ist hier also nicht selbstständig, er hängt nicht von den Gesetzmäßigkeiten des
Quintenzirkels ab, sondern von der Tonhöhen-Entwicklung der melodischen Ebene des Textes.
Modulationen in weit entfernte Tonarten mit einem gemeinsamen Ton der Melodie sind bei
Schubert keine Ausnahme, man könnte das sogar als System empfinden. Im Allegro a-Moll,
Lebensstürme, für Klavier zu vier Händen ist zum Beispiel der ganze Modulationsplan diesem
Prinzip untergeordnet: alle wichtigen Tonarten (a-Moll, As-Dur, C-Dur und F-Dur) sind hier durch
den Ton c miteinander verbunden.
Die „Richtungssemantik“ dieser Modulationen ist im Großen und Ganzen auch die
subdominantische („zur Seite“), man kann vielleicht auch von einer Bewegung (oder eher einem
Sprung) in eine „parallele Realität“ sprechen.
N.B. Offensichtlich würde das allgemeine Schenkerianische Schema von einigen Kompositionen
Schuberts nicht traditionell als III–II–I in der Melodie und T–D–T im „Bass“, sondern als I–I–I mit
T–S–T erscheinen!
Man findet aber auch Beispiele, wo die Modulation auch der Ton- höhen-Kontur der Melodie folgt,
wo es aber anstatt einer konstanten Tonhöhe (Wiederholung des Tons) eine Sekunden-Verschiebung
gibt! Das ist zum Beispiel in dem Lied Auf dem Flusse, T.9 der Fall. Hier dient die Modulation von
e-Moll nach dis-Moll zweifellos dem Ausdruck der Gesangsstimme („... wie still bist du
geworden...“). Ein ähnliches Phänomen gibt es in dem langsamen Satz der Sonate c-Moll, wo das
Nebeneinander von As-Dur und A-Dur den Effekt spannungsvoller Erhöhung der menschlichen
Stimme nachbildet. In einer unerhörten polytonalen Stelle im 2. Satz des G-Dur Quartetts bewahrt
der „Schrei“ der Geigen seine absolute Tonhöhe, unabhängig von der Modulation des Tremolos. Ein
anderes erstaunliches Beispiel ist der Erlkönig. Hier gibt es gewiss die bei Schubert seltene
„Bewegung-nach-vorne“, die Musik folgt der Entwicklung des Geschehens, – und die
Modulationen gehen stufenweise nach oben (g-Moll, B-Dur, C-Dur, D-Dur).
Siehe auch das Credo aus der Es-Dur-Messe.
Die Vermutung liegt nahe, dass der „eingefleischte Lied-Komponist“ Schubert nicht weniger der
Logik der menschlichen Stimme (nach oben = Spannung wächst = nach vorne) als der des
Quintenzirkels folgt.
Die als Rede, Deklamation und Gesang sich entfaltende Melodie bestimmt die Harmonie und damit
auch den Formaufbau – wenn diese Annahme auch nur teilweise stimmt (nicht als Ersatz, sondern
als Kontrapunkt zur konventionellen Modulationssemantik, die bei dem jungen Schubert übrigens
noch ganz präsent ist), kann sie vielleicht einige fruchtbare Forschungsgebiete umreißen: für die
Forschung der Modulationssemantik allgemein, für eine Annäherung der schubertschen Ästhetik,
und vor allem für ein Verstehen der Problematik des musikalischen Textes in Hinsicht auf die
Einheit der melodischen, harmonischen und formalen Ebenen.