Musik als Prozess ist eine Vorstellung, die den großen Dirigenten der Vergangenheit bei ihren
Bruckner-Interpretationen einen schlechten Dienst erwiesen hat. Für einen „Beethovenianer“, wie
es jeder Musiker damals war, ist das Prozessuale eine Selbstverständlichkeit, was auch den alten
Bach-Interpretationen etwas schadet.
An der Unbeweglichkeit haftend, sind Bach und auch Schubert direkte Vorgänger Bruckners in der
Ästhetik des reinen Monotheismus.
Keinen Prozess – aber was man bei Bruckner finden kann, sind Züge der „offenen Form“. In dem
typischen Aufbau-Schema seiner Symphonien und in seinem Quintett gibt es zwei Schichten, zwei
parallele Ebenen. Die eine ist die Themen-Menge – das sind alle Themen des Werkes als eine
Reihe. Vage gesagt sind es zehn – zehn, die etwa wie folgt aufgeteilt sind: drei im ersten Satz, zwei
im zweiten und dritten, drei im letzten. Jedes von ihnen ist wie eine Manifestation, der Aus- druck
eines der Aspekte, Antlitze Gottes (z. B. – Gerechtigkeit, Erbarmen, kindliche Reinheit usw.) Diese
Antlitze – die Themen – sind quasi außerhalb der Zeit. Die Zeit gibt es nur für den, der sie
betrachtet (ein Mystiker, Visionär); das ist die zweite Ebene: Die Abschnitte zwischen den Themen
sind so etwas wie eine Erholung und Vorbereitung auf das nächste Betrachten, eine Offenbarung des
neuen Aspektes, der dann aber trotzdem plötzlich und gleich als Ganzes erscheint.
Diese Abschnitte sind wesensmäßig variabel und können länger oder kürzer sein (wie es in den
verschiedenen Fassungen auch der Fall ist). Ich glaube auch, dass Bruckner nicht von einer
bestimmten esoterischen Lehre ausgegangen ist, sondern von seiner eigenen mystischen Erfahrung.
D.h. seine Symphonien (und das Quintett) stellen eine authentische, von ihm erfundene Mythologie
dar (Natur der verschiedenen Gottesaspekte). Es ist auch seine ureigene Vorstellung, dass dieser
eine Gott sich dem Menschen (der menschlichen Natur entsprechend) nur als eine Reihe von
voneinander getrennten Aspekten, Antlitzen offenbaren kann.
Dies war ihm übrigens nur in der instrumentalen Musik möglich, denn die Messen und das Te Deum
sind, bei aller Genialität der einzelnen Elemente, zu sehr durch den Textaufbau bestimmt.
Ich sehe in seiner Harmonik eine besondere Art der Vollendung des tonalen Systems (im Gegensatz
zu den gängigen Vorstellungen über die Modalität bei Bruckner). Das Gefühl, dass jede Tonart sich
als Tonika entpuppen kann, das der brucknerschen Harmonik so wesentlich ist, ist ein wichtiger Teil
seiner mystischen monotheistischen Ästhetik: das bekannte scholastische Modell des Universums
als eine Sphäre mit dem Zentrum überall und der Peripherie nirgends...