Boris Yoffe English Deutsch Русский
Mozart und die Grundfrage der Philosophie

Auch wenn ich während meiner marxistisch-leninistischen Vorlesungen (eine Pflicht in der Sowjetunion) friedlich geschlafen habe, hat wahrscheinlich das Thema „Lenin und die Grundfrage der Philosophie“ meine Denkweise tief beeinflusst. Auf jeden Fall wäre für den folgenden Aufsatz kein besserer Titel möglich als „Mozart und die Grundfrage der Philosophie“.

Die Vorstellung, dass es überhaupt so eine Grundfrage gibt, und die Vorstellung, was das eigentlich für eine Frage ist, habe ich einem etwas paradoxen Gefühl der Einheit in Mozarts Musik zu verdanken. Denn es gibt viele Werke von Mozart, die das Gefühl einer zauberhaften, wie durch ein Wunder entstehenden Einheit vermitteln, einer Einheit, neben der Werke anderer Komponisten nur eine mehr oder weniger gelungene Imitation zu sein scheinen. Dieses Gefühl – oder diese Einheit – ist paradox, und sogar auf zwei Arten.

Erstens scheinen hier die Dinge untrennbar vermischt zu sein, die man gewöhnlich als unvereinbar, ja gegensätzlich betrachtet: Kann man gleichzeitig völlig ernst und völlig unernst sein, gleichzeitig entzückt, voller Enthusiasmus – und untröstlich traurig, oberflächlich, geschwätzig – und unheimlich ehrlich und intim, sein?
Und zweitens scheint diese Einheit so bezaubernd zu sein, weil sie etwas Willkürliches, Zufälliges an sich hat, obwohl sich die ganze thematische Arbeit und formale Logik aufzeigen lassen.

Ich frage mich, wo im „echten Leben“ das Entsprechende zu dieser Einheitsvorstellung liegt, so wie es sich mit den anderen musikalischen Stilen (historischen und auch persönlichen Stilen bestimmter Komponisten) verhält, die ich als Modell eines bestimmten Weltbildes wahrnehme.

Ich glaube, jeder musikalische (oder allgemein künstlerische) Stil ist eine bestimmte, konkrete Lösung des Problems der Synthese des Rationalen und Irrationalen. Ich glaube auch, dass die europäische Musik nur vier solche Lösungen oder Modelle bietet, in denen das Gleichgewicht dieser beiden Pole realistischer-, oder wenn man will mystischerweise erhalten bleibt: die Musik von Bach, Mozart, Schubert und Bruckner – Künstler, die der Musik beigebracht haben, solche komplexen und tiefen Dinge ausdrücken zu können, wie es vielleicht keine andere Sprache vermag.

Jeder dieser Stile oder Ästhetiken ist ein völlig eigener Weg, das Leben zu verstehen. Wieso ist ausgerechnet Mozart für die Grund- frage zuständig? Weil sich diese Frage seit Sokrates um den Menschen dreht. Es ist eben keine Theologie – es ist eine Philosophie, die sich um nichts anderes kümmert als um den Menschen, und die Grundfrage ist die Frage nach Einheit und Wert der Persönlichkeit.
Diese paradoxe, komplexe Einheit der mozartschen Musik, in der die rationalen, logisch nachvollziehbaren Elemente mit den irrationalen, freien, intuitiven Elementen so perfekt verschmelzen, ist ein Äquivalent der menschlichen Seele, der Persönlichkeit, in der all die emotionalen und intellektuellen Zustände paradox koexistieren, und deren Einheit ein Geheimnis ist.

Für viele Zeitgenossen war die Musik Mozarts ein ungeheueres Durch- einander aus Stilen und Gattungen, und unzählige schreckliche Interpretationen und Inszenierungen von heute belegen, dass es genauso schwierig geblieben ist, diese Einheit nachzuvollziehen. Gibt es sie überhaupt? Warum passt ein Thema zu einem anderen und ein Satz zu einem anderen? Man hat ja zu Mozarts Zeiten sogar die Sätze einer Sinfonie an einem Konzertabend voneinander trennen, Arien aus der Oper weglassen bzw. neue hinzufügen können –, und wer weiß schon, was Mozart selbst zu den aufgeschriebenen Noten alles improvisiert hat? Oder die berühmte feine Orchestrierung – wieviel liegt da an der Ästhetik und wieviel an den historischen Umständen, wie z.B. Sparmaßnahmen? Und die „Manie“ der kleinen Änderungen? Was bedeutet es, dass Mozart so gern bei Wiederholungen gleicher Stellen kleine, manchmal fast unmerkliche Änderungen hereinbringt? Und manch- mal wieder keine?

Nehmen wir z.B. die Klaviersonate F-Dur, KV. 533 (komponiert im Jahr 1788). Das ist eine der monumentalsten und komplexesten Klaviersonaten Mozarts und zweifellos ein großartiges Beispiel einer zyklischen Form, also einer Einheit von drei Sätzen. Als Finale dieser Sonate benutzt Mozart allerdings ein Rondo (KV 494), das er im Jahr 1786 geschrieben hat. Wieso passt das Rondo zu der Sonate? Musste Mozart etwas verändern?

Erstens, weil es ein Rondo ist, passt es als Finale (aber nicht als erster oder zweiter Satz) in das Konzept des klassischen Sonaten-Zyklus. Allerdings muss es ein schnelles Rondo sein (auch ein langsamer Satz kann ja in der Rondo-Form geschrieben sein).
Zweitens sind die Dimensionen wichtig: die ersten beiden Sätze sind außerordentlich breit, langatmig und vielfältig, so darf auch das Finale nicht aphoristisch sein.
Drittens liegt es an der Tonart: selbstverständlich darf es kein Moll sein, aber darüber hinaus spielt die Tonart-Semantik eine wichtige Rolle. Zwar fehlt es nicht an Beispielen transponierter Stücke, aber sehr viel mehr Beispiele – und nicht nur bei Mozart – belegen, welche wichtige Bedeutung die Komponisten in den Tonarten sehen. Das ist ein Thema für einen anderen Aufsatz, aber wenigstens eine Bemerkung dazu möchte ich mir erlauben: Man denke nur an die praktischen Möglichkeiten des damaligen Klaviers: wie konsequent benutzt Mozart die Gegebenheit des Tastatur-Umfangs, wo tauchen die höchstmöglichen (f der dritten Oktave) oder manchmal auch die tiefstmöglichen Noten auf. Das ist ja nicht in allen Tonarten gleich.

Viertens spielen die Textur und der stilistische Umfang eine Rolle: Mozarts Vorliebe für Polyphonie, aber auch für besondere Durchsichtigkeit, die wir in den ersten beiden Sätzen haben, soll auch im letzten zur Geltung kommen, ebenso soll auch die Art der thematischen Entwicklung, die in den ersten Sätzen sehr ausgeprägt ist, sich mindestens dazu im letzten annähern. (Denn eine etwas größere Einfachheit des letzten Satzes ist dem allgemeinen klassischen Zyklus-Konzept nicht fremd).
Und fünftens: Schauen wir uns die Takte 143–169 an, die Mozart eingefügt hat, um das Rondo der Sonate anzupassen. Wir haben es da praktisch mit einer Kadenz zu tun, als ob es ein Klavierkonzert wäre –, ähnlich wie in der Klaviersonate KV 333, aber auch anders, weil wir uns in dem Rondo zu dem langen kontrapunktischen Aufbau auf dem Dominant-Orgelpunkt hinbewegen und in der Sonate von dem Dominant-Orgelpunkt wegbewegen. (Eine Kadenz wäre in einem allein stehendem Rondo eher undenkbar, aber in einer Sonate ist das eine organische Unterstreichung der monumentalen Form; die Coda aber, die eine Coda zu der ganzen Sonate zu sein scheint, war schon in dem Rondo von 1788 enthalten).

Besonders wichtig sind die Takte der Überleitung zu dem Orgelpunkt: Hier haben wir praktisch ein Zitat aus dem zweiten Satz! – so auffällig und unverwechselbar ist die harmonische Fortschreitung an dieser Stelle.

Wie einheitlich soll ein Stück überhaupt sein ( – und warum?), und welche als informativ ausgewählten Elemente werden zu Trägern dieser Einheit? Das ist die Frage der einzelnen Ästhetik und ich werde später versuchen die Hauptvarianten aufzulisten, die uns die Geschichte der europäischen Musik anbietet.
In der Sonate F-Dur haben wir aber ein typisches Beispiel dafür, wie es bei Mozart mit der Einheit eines Zyklus aussieht. Reichen die oben beschriebenen fünf Momente aus?
Ich glaube, es ist noch ein Element im Spiel, mit dem Mozart gerechnet hat: die kreative menschliche Intuition, die Fähigkeit, Dinge zu deuten, Zusammenhänge in dem gegebenem Kontext zu erkennen (oder – zu schaffen?), zu semantisieren. (Dasselbe gilt für die Frage, warum die Themen innerhalb eines Satzes zueinander passen. Manch- mal gibt es genügend Verbindung und Verwandtschaft zwischen den Themen – es sind damit meistens das Haupt- und das Seitenthema einer Sonatenhauptsatzform gemeint, denn zwischen Überleitungs- und Schlussthemen gibt es in der Regel eine sichtbare Verbindung –, sodass man praktisch die beethovensche Technik der thematischen Arbeit schon vollkommen bei Mozart antrifft –, aber oft findet man keine oder eher fragliche Elemente, die die Einheit technisch begrün- den können. In der Musikwissenschaft sind zurzeit „Experimente“ beliebt, die Themen aus verschiedenen Werken Mozarts kombinieren – voraussichtlich unmerkbar für einen durchschnittlichen Zuhörer. Ein Spiel nach dem Motto: „Entdecke die Einheit“).
Es gibt wohl keine Musik, die mehr Möglichkeiten für ein kreatives Semantisieren bietet als Mozarts. Wie viel man in ihr entdecken kann, liegt am Hörer selbst –, das gilt vielleicht für die musikalische Kunst allgemein (nicht jedoch für ein Übungsstück oder Gebrauchsmusik), aber Mozart traut seinem Zuhörer besonders viel zu...

Das mittelalterliche Konzept der Einheit können wir mit Hilfe der isorhythmischen Motette skizzieren. Die ganze Komposition – Material und Form – beruht auf der „fremden“, von außen genommenen Quelle –, nämlich einer Choralmelodie. Diese Melodie ist auf zweierlei Weise dabei: als abstrakte „Stoffquelle“, aber auch „live“ in dem Klang der Komposition, allerdings in einer anderen Dimension, denn ihre Töne kommen extrem langsam und voneinander getrennt, sodass man sie nicht mehr als eine Melodie erkennen kann. Das ist auch nicht nötig in dieser Ästhetik, wichtig ist, dass man es weiß. Ich sehe darin ein Modell der Beziehung zwischen Gott und der Welt, die man als „ungetrennt und unvereint“ bezeichnet: der Schöpfer, der die Quelle von allem ist, bleibt transzendent und doch spürbar. (Dieser wunder- bare Effekt ist noch bei Bach bewahrt, und nicht nur in den Choral- Melodien.)

In der Renaissance ist die Einheit des Musikstückes, wie z.B. eines Madrigals, durch die Gleichheit der einzelnen Stimmen gesichert, einer ganz anderen Technik als zuvor. Und ein nicht weniger wichtiger Schritt ist die Emanzipation des Vertikalen, die wahre Triebfeder der weiteren Entwicklung der Musik. Hier geht es also um eine Art harmonisches Gleichgewicht zwischen Einzelteilnehmern, eine (heidnische?) Art Pluralismus – allerdings mit den transzendenten Bedingungen für die Formbildung – diese Funktion übernimmt ja der Text.
Zum Ende des Barock hat die Musik eigentlich den Höhepunkt der Komplexität der Ausdrucksmittel erreicht, in der weiteren Entwicklung geht es nur noch um Deutungsmöglichkeiten dieses Systems (Sprache?). Die Vertikale wird gleich wichtig wie die Horizontale und in einem Musikstück werden Harmonik, Melodie und Form untrennbar, sodass keines der drei Elemente vorherrscht. Das ist die maximale Komplexität in der Musik, sie hält eine Weile an und wird nach Schumann allmählich zurückgehen – zum Glück nicht ohne einige Ausnahmen. Die Barockmusik gibt wunderbare Möglichkeiten, sich mit der Problematik der Einheit auseinanderzusetzen, und Aspekte wie das Werden, die Änderung, die Entwicklung und die Beziehung zwischen Teil und Ganzem etc. kennen zu lernen. Sie entwickelt eine von äußeren Faktoren unabhängige musikalische Form, die auf Modulationen basiert und mit Hilfe einer melodischen Figur die harmonische Progression wie einen Fächer „öffnet“. Es ist eine einheitliche Struktur, die einem konzentrischen, wohl geordneten Universum gleicht, ähnlich einem Uhrwerk (ritualhaft!); ein Punkt kann sich öffnen und zu einer vielfältigen Welt werden (ein Ton bedeutet ein Dreiklang, der Dreiklang bedeutet eine einfache harmonische Progression, die wiederum eine komplexe Progression mit (meistens) drei Modulationen bedeutet –, und dann muss man sie mit dem Schlüssel der Melodie zum Leben erwecken).

Und die Energie für das Ganze, den Treibstoff, liefern die Affekte, die Emotionen – ein Affekt pro Musikstück.
Ein wesentliches Moment dieser Ästhetik ist die Statik: das Stück entwickelt sich wie von einem festen Zentrum zur Peripherie, mit ständiger Zunahme an Freiheit/Zufälligkeit. Das lässt sich am besten mit einem Gebäude vergleichen, einem Dom, der sich von der tragenden Baustruktur bis hin zu skulpturischen Verzierungen an den Wänden „entwickelt“ (diese Verzierungen sind dann die konkreten „kleinsten“ Noten des gegebenen Stücks, die bei der Aufführung ihrerseits mit improvisierten Verzierungen versehen werden können).
Diese typische barocke musikalische (Tanz-)Form, diese komplexe Einheit der Harmonik, Melodie und Form – mit der es übrigens zur Möglichkeit der rein instrumentalen Musik kommt – diese Form lässt sich auch zu einer dynamischen Form umdeuten. Man darf nur die Kadenzen – die Knoten dieser Form – nicht mehr als „tragende Säulen“, sondern als Ereignisse im Fluss des Geschehens wahrnehmen. Dann werden diese Ereignisse durch das Erscheinen eines neuen Materials auch melodisch, thematisch unterstützt, und das Stück entwickelt sich nicht mehr konzentrisch, vom Zentrum zur Peripherie, sondern linear, von Punkt A zu Punkt B, und noch dazu chronologisch, d.h., die Musik bewegt sich quasi aus der Vergangenheit in die Zukunft, wobei die Ungewissheit des Kommenden eine große Rolle spielt. Eine solche Umdeutung der barocken Musikform hat bekanntlich Domenico Scarlatti gemacht und dabei die Sonatenhauptsatzform geschaffen, die Form, die praktisch bis heute ihre führende Position in der Musik nicht aufgegeben hat. Die Textur wird einfacher, denn die größte Aufmerksamkeit gilt nicht mehr dem „Öffnen des Fächers“, sondern der Bewegung nach vorne, der Begegnung mit neuen Ereignissen und ihrer Integration. Doch tauchen hier gleich Probleme mit der Einheit auf: Wenn ein neues Material, bzw., was sehr wichtig ist, ein neuer Affekt auftaucht, denn das ist das neue Ereignis, und ein Stück kommt ab jetzt nicht mehr mit nur einem Affekt aus, wie anders – wie passend oder wie willkürlich – soll dieser dann sein? Denn hier ist jetzt die Tür zur Freiheit und nicht mehr an der „Peripherie des barocken Kreises“.

Komponisten wie Scarlatti, Bachs Söhne und vor allem Haydn haben Lösungen für diese Situation gefunden, die dann Beethoven in ein strenges ästhetisches System verwandelt hat, was die ganze musikalische Entwicklung nach ihm entscheidend geprägt hat. Dabei wurden auch die anderen „alten“ Formen – Variationen, Rondo, da-capo-Form (oder die etwas lockerere dreiteilige Form) und strophische Form – der neuen Form-Semantik angepasst bzw. „sonatisiert“. Das geschah auch auf der Ebene des Zyklus: wenn der barocke Zyklus, wie die Suite, einem Barock-Roman ähnelt, in dem jedes Kapitel eine geschlossene Geschichte ist und das Ganze eine Art Sammlung von Episoden über den Helden, der sich immer gleich bleibt (man denke dabei z.B. an Don Quixote), so ähnelt der Sonaten-Zyklus einem neuen Roman mit einer durchgehenden Entwicklung, die auch den Helden verändert.

In der Musik steht das beethovensche Modell für diese einheitliche, logische, konsequent-chronologische Entwicklung einer konflikt- tragenden Ausgangssituation bis hin zu ihrer Lösung, einem eindeutigen und erschöpfenden Schluss.
Die Einheit wird angesagt, sie wird zur Pflicht, zur Selbstverständlichkeit, zu einem Axiom.

Es gibt einige Methoden sie zu kreieren (zu simulieren?); die weit- gehend wichtigste Methode ist die thematische Einheit (das Jahrzehnte dauernde Monopol der Sonatenhauptsatzform erzieht seinerseits den Zuhörer dazu, das, was er hört, richtig zuzuordnen). Ein Thema bekommt mehr und mehr eine feste Bedeutung, wird zum „Helden“ der musikalischen Erzählung –, zwar unterschiedlich bei Beethoven, Schumann, Berlioz, Liszt, Wagner etc. (auch zum Teil bei „Ausnahmen“ wie Schubert und Bruckner), aber niemand zweifelt an der Einheit, der Einheit der Situation, der Geschichte, der Gesellschaft und vor allem – des Helden. Das Ich wird zum Hauptthema, und zwar nicht „ich, der Mensch“, sondern „ich, Napoleon“, „ich, der Künstler“ oder sogar „ich, Richard“, ich, Frederick“, „ich, Peter“, etc. Auch viel später noch, als es längst schon den verzweifelten musikalischen Existenzialismus gibt, identifiziert sich die spießbürgerliche Persönlichkeit in der Musik solcher Komponisten wie Richard Strauß ganz sorglos nicht nur mit dem „Edelmann“, sondern auch konsequent mit Zarathustra, Till Eulenspiegel, Don Juan, Don Quichotte und anderen Helden, bezwingt die Alpen und erreicht eine süße „Verklärung“. Und selbst noch etwas später, bei Stockhausen, verhält es sich immer noch nicht grundlegend anders.

Auf dem Hauptweg der Musik wird aber schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Einheit immer problematischer. Zwei Richtungen entstehen: eine versucht die Einheit um jeden Preis zu bewahren und sogar zu steigern, wobei es sich immer mehr um eine formale Einheit handelt – die Lücke zwischen „Form“ und „Inhalt“ wird immer größer – und die andere verneint die Einheit und widmet sich dem Thema der Unmöglichkeit der Einheit.

Ich glaube aber, beide Richtungen vertreten die gleiche Ästhetik: die existenzialistische.
Der Existenzialismus in der Musik beginnt mit der Sechsten Sinfonie von Tschaikowsky. Der Komponist, der sonst immer gewissenhaft den beethovenschen Weg gegangen ist, hat hier ein Werk geschaffen, das über die Unlösbarkeit klagt, dass es keinen gemeinsamen Nenner zwischen Mensch und Welt gibt. Das Leiden, die Entfremdung ist da, ohne Erklärung und ohne, dass jemand daran Schuld wäre. Um das zu vermitteln, entdeckt Tschaikowsky eine neue Technik. Im ersten Satz ist das das überraschende Erscheinen eines fremden (auch thematisch fremden), nicht davor und nicht danach verwendeten Materials (in der Durchführung und in der Coda) und auch die Rolle des Seienthemas (das kaum eine Verwandtschaft zu dem Hauptthema hat) wird umgedacht: es bleibt dem dramatischen Geschehen völlig entzogen, isoliert, abgegrenzt, es ist eine andere Welt, die mit dem Irdischen keine Berührung hat. Noch erstaunlicher verhält es sich auf der Ebene des Zyklus: Nichts verbindet den dritten und vierten Satz, sie ergänzen einander auch auf keine Weise – sie bleiben unverbindbar, stoßen einander ab. Auch die chronologische Einheit wird verletzt: der letzte Satz ist nicht etwas, was nach dem dritten passiert, sondern die beiden Sätze stehen vielmehr parallel zu einander.

Die gleichen Mittel benutzt Mahler, vor allem in der Fünften. Die Welt hat einen unheilbaren Riss, die Sinfonien können in einer bestimmten Tonart anfangen und in einer anderen enden. Die Puzzle-Teile können zum Weinen schön sein, aber sie passen nicht mehr zueinander; es kann eine Einleitung zu Nichts auftauchen oder ein Zwischenspiel zwischen nichts und nichts. Es ist auch kein Zufall, dass Mahler ein Thema anzusprechen wagt, das sich mit keiner Logik behandeln lässt und auf keine Lösung hoffen kann: Warum müssen Kinder sterben?
Wie in Tschaikowskys Sechster, spielt bei Mahler das Zitieren eine wichtige Rolle, nicht unbedingt das buchstäbliche Zitieren, sondern vielmehr ein „Zitieren einer Sprache aus einer fremden Welt“. Allerdings ist es ein anders Zitieren als bei Strawinsky oder bei den Postmodernisten.

Zu einem Hauptausdrucksmittel wird dieses „existenzialistische Zitieren“ bei Schostakowitsch.
Diesen großartigen Musiker, der auch ein anständiger und ehrlicher Mensch war (wie es nicht immer bei großartigen Talenten der Fall ist), hat das Schicksal zu einem Märtyrer gemacht. Die Unmöglichkeit einer Einheit zwischen dem einzelnen Sterblichen und der historisch-politischen Dimension, in der er lebt, ist zum Axiom seiner Musik geworden. Dabei ist ein einmaliges ästhetisches Paradoxon entstanden: eine hohe erhabene, kluge und reine Kunst, die nur mit hässlichen Mitteln des Grotesken, hassvoller böser Parodie und Karikatur geschaffen werden kann.

Bei allen drei großen musikalischen Existenzialisten (eigentlich sind es vier, denn ich zähle auch Berg dazu – ideologisch und auch technisch, wenn man an die Stil-Zitate in seinen Opern und vor allem an sein Violinkonzert denkt) ist die Uneinheitlichkeit der Gegenstand der Ästhetik –, der Stil und die Stücke bleiben aber dabei als Kunst- werke einheitlich. Es wird in der Musik aber noch ein weiterer Schritt gemacht, nämlich der Schritt zu einer „experimentellen“ uneinheitlichen Musik, die für sich alleine kaum in der Lage ist eine Ästhetik auszudrücken und eher als Illustration verbal formulierter Konzepte erscheint.
(Hier ist es interessant, neben der Emanzipation des Vertikalen und den Einheits-Modellen, über eine weitere Achse der Musikgeschichte nachzudenken, nämlich über den mit der Romantik eintretenden Konflikt zwischen fruchtbarem Dilettantismus und „erstarrtem“ Akademismus. Fast alle großen romantischen Komponisten waren mehr oder weniger Dilettanten (man denke nur an Mussorgsky!) – wohl deswegen, da sie sonst nicht die Kraft gehabt hätten, auf eigene Faust und ohne Kanon dem eigenen Geschmack und der eigenen Intuition zu folgen – und das ist der Eckstein der romantischen Ästhetik. Und zu Beginn des Modernismus wird aus diesem Konflikt fast ein Krieg.

Ein noch viel folgenreicherer Krieg tobt am Ende des 19. Jahrhunderts um den Begriff der absoluten Musik, einen Begriff, der sich leider schnell wie Unkraut entwickelt hat und zu einem wichtigen Mythos in unseren heutigen Kultur geworden ist. Dabei geht es um die Einheit in einem Musikstück, die keine äußeren, außermusikalischen Elemente benötigt. Es ist also der zweite Weg, den ich oben erwähnt habe: der Weg einer formalen, mechanischen, eigentlich formalistischen Einheit, die sozusagen in dem Stück ganz und gar enthalten ist und keine Inspiration oder Intuition des Zuhörers braucht. Ist damit nun eine „absolute“ Semantisierung gemeint oder gar keine? Das kann ich nicht verstehen, mir scheint dieser Begriff ein Oxymoron zu sein, denn so eine absolute Musik ist nur möglich, wenn es einen absoluten Zuhörer gibt (die Musik, im Gegensatz zur Notenschrift und zu akustischen Signalen, ist doch etwas, was nicht auf dem Papier und nicht in der Luft, sondern im Kopf des Zuhörers stattfindet), der keine persönlichen Züge in seiner Wahrnehmung hat oder das Wahrgenommene sogar gar nicht semantisiert –, in diesem Fall braucht er aber auch keine Einheit, bzw. er kann sie sich auch nicht vorstellen.

Auf keinen Fall kann ich die Musik Brahms’, die in diesem Krieg so gnadenlos instrumentalisiert wird, als inhaltslos betrachten. Sie ist für mich genauso eindeutig und konkret wie die Musik Wagners. Und auch diese großartige, beispiellose Arbeit, die Brahms in Richtung formaler Einheit in seinen Kompositionen vollbringt, kann ich mir nicht als Bestandteil irgendeiner Absolutheit vorstellen. Ich glaube, wie ich schon sagte, es handelt sich sogar um eine einheits-verneinende Ästhetik. Brahms schließt die Emotionen und die Intuition nicht aus, aber sie werden fast überflüssig wie ein unvermeidbarer Zusatz zur kompositorisch-technischen Arbeit (als Priester der reinen Kunst ist er noch dazu gezwungen, alles mit einem Schein der Weisheit zu versehen). Bei dieser Arbeit handelt es sich nicht nur um die maximale lineare Einheit (das ganze melodische Material entwickelt sich aus einem Kern), sondern auch um die formale Einheit der Horizontalen und der Vertikalen (dieser Kern liefert auch den Ausgangspunkt für die Harmonik, ein Verfahren, das nur ein paar Jahrzehnte später Schönberg zur logischen Vollendung bringt). Die höchstkomplexe relativistische Untrennbarkeit der Melodie, der Harmonik und der Form, die wir bei Bach und Mozart genießen, findet dabei ein Ende –, und auch die Von- einander-Abhängigkeit des Stücks und des Zuhörers (der Welt und des Beobachters) wird durch den Schein einer „objektiven Einheit“ ersetzt. Ich glaube, dass das, was diese durch Wissenschaft vergiftete Ästhetik (ungewollt?) ausdrückt, der Zustand einer völligen Trennung Gottes von der Welt, der Seele von dem Körper etc. ist. Am deutlichsten wird es bereits bei Schönberg: die Gesetze, die die ganze Komposition bestimmen und ihre Einheitlichkeit eisern garantieren, werden von der Komposition isoliert, unhörbar und unmerkbar –, sie sind etwas anderes als die klingende Vielfalt (so wie man es sich bei den Naturgesetzen vorgestellt hat). Anders als z. B. in der isorhythmischen Motette hat Gott hier sein Gesicht versteckt.

Die weitere Entwicklung dieses Weges in der Musik verläuft so, dass man die mechanische Einheit noch weiter anstrebt und noch weiter verabsolutiert, sodass man allmählich die Technik findet, die den Einfluss der Intuition und überhaupt der Persönlichkeit in der Musik maximal reduziert. Allerdings wird es dem Künstler bewusst, und es kommt eine ideologische Begründung dazu (die ihre Quelle nicht bei Brahms, Bartok oder Schönberg, sondern bei Debussy hat, denn Schönberg hat sich durchaus noch für die Psychologie in der Musik interessiert, Debussy aber, wenn er sich überhaupt einmal zum Menschen hinwendet, nimmt ihn ausschließlich visuell auf als einen mehr oder weniger imposanten Gegenstand neben anderen): Wir wollen mit dem Menschen einfach so wenig wie möglich zu tun haben, denn seine psychische Welt ist banal und geschmacklos. Und ich muss schon zugeben, dass der Wunsch, sich vom Menschen abzuwenden, nach allem, was er im 20 Jahrhundert vollbracht hat, nachvollziehbar ist.

Bei meinem Versuch, die Geschichte der Einheitsvorstellung in der europäischen Musik zu skizzieren, ging es mir selbstverständlich nicht darum, verschiedene Stile zu bewerten. Die europäische Musik an sich ist ja selbst eine Einheit, eine einheitliche Sprache, die sich aus wenigen bestimmten Grundlagen entwickelt hat. Vielleicht hat sie schon so etwas wie eine Evolution durchgemacht, den Höhepunkt erreicht und dann allmählich ihre Möglichkeiten erschöpft, das wird sich viel- leicht noch zeigen; aber alle Epochen haben uns großartige Denkmale hinterlassen und in allen Epochen gab es große Talente –, und ein Talent bleibt ein seltener Schatz, egal, in welcher Ästhetik es sich ihm zu offenbaren gelingt.

Was ich zeigen wollte, ist die Besonderheit der Ästhetik Mozarts, die sich als Übergang (A. F. Losevs Satz: alle Epochen sind Übergangs- epochen) vom barocken Rationalismus zur klassisch-romantischen Dialektik verstehen lässt. Zwei Generationen vor Mozart hat Bach „die Grundfrage der Metaphysik“ gestellt und Mozarts Musik hat mit ihrer Hinwendung zur Persönlichkeit die zentrale philosophische Problematik offenbart.

Mozarts Lösung für die Einheit, wie sie in einem Musikstück zum Ausdruck kommt, würde ich so formulieren: Eine gegensatzreiche Vielfalt psychischer Zustände, die sich intuitiv als eine Person erkennen lässt; je höher die Leistung der Intuition ist, umso schöner ist die Einheit und umso wertvoller ist die ästhetische Erkenntnis (wobei ohne Ästhetik es ja keine Erkenntnis gibt); diese Leistung, durch Inspiration und Liebe verstärkt, ist grundsätzlich vergänglich und kann nicht fest- gehalten werden.

Alles, was wir fühlen und denken, ist das, was wir unsere Seele nennen. Alle Dinge vereinen sich da, um die Einheit – unsere Persönlichkeit – zu bilden. Und es lassen sich daraus keine Schlüsse ziehen, denn es gibt keinen Schluss, der uns außerhalb unserer selbst führen kann. Man kann alles denken, über alles lachen und über alles weinen, man kann aber ein Wissen nicht fest besitzen. Es ist nicht möglich, auf diese hypothetische Maxime Mozarts eine Ideologie aufzubauen, es ist auch kein subjektiver Idealismus oder purer Subjektivismus wie bei den Romantikern (ich bleibe für mich ein Objekt), höchstens – ein paradoxer subjektiver Objektivismus.

So kann ich vielleicht am Morgen so gut wie nichts empfinden, und am Abend kommt eine Abendempfindung und führt mich in „erhabenste Tiefe“, die sich aber nicht festhalten lässt, weder in dem zauberhaften Lied (Abendempfindung) noch in den sieben Bänden der Temps perdu.
Und dieses Lied ist das und spricht auch darüber. Die Schönheit, die Erleuchtung, das Glück – all das sind Augenblicke unserer Seele. Wie die Reue des Grafen aus dem „Figaro“. Ein Affekt, nicht unbedingt stärker als die Begierde. Aber wertvoller.

Und wie wertvoll sind die Gefühle von Dorabella und Fiordiligi? Um das zu erforschen, widmen wir uns zunächst wieder der Abendempfindung. In diesem Lied gibt es klare Grundlagen der Einheit: vor allem das Klavier-Motiv, das sich immer wiederholt, die Textur, einige melodische Elemente und auch die Art des Formaufbaus, nämlich die ausgedehnten, unsymmetrischen Perioden. Aber auch in diesem Lied gibt es einen überwältigenden Reichtum, eine Mannigfaltigkeit des Materials, sodass man am Ende fast einen umgekehrten, paradoxen Effekt bekommt: Das sich immer wieder in neuem Kontext wiederholende Klaviermotiv verstärkt noch das Gefühl von Veränderung, Entwicklung und sprunghafter Steigerung. Und was entwickelt sich? Die Gefühle des Helden des Lieds. Es ist also ein dynamisches Porträt (ein musikalisches Porträt in diesem Sinne ist an sich schon ein Paradoxon) eines Menschen, ein Diagramm der Bewegung seiner Gedanken und Gefühle.

Erstens drückt die Musik eine bestimmte Persönlichkeit aus, aber immer in einer Entwicklung und Veränderung; um diese Persönlichkeit und die Einheit der komplexen Vielfalt erkennen zu können, muss man zweitens mit der genauso komplexen, paradoxen Persönlichkeit, der Intuition (Logik reicht nicht) und dem ästhetischen Sinn des Zuhörers rechnen. Und die geistige Leistung des Helden des Lieds ist vergleich- bar mit der geistigen Leistung eines sensiblen Zuhörers, und beide sind nur kurze vergängliche Augenblicke. Ist diese Vergänglichkeit des noch Erhabenen und höchst Lebendigen nicht die Wurzel jener tiefen verklärten, unvergleichbaren Traurigkeit, die wir als kaum spürbaren, aber ständigen Hintergrund bei Mozart kennen (nicht nur bei Moll-Werken, sondern z.B. auch dem Klarinettenkonzert oder dem „Krönungskonzert“ ist sie sehr stark spürbar)? Und ist nicht die Wurzel des Gefühls des Spielerischen, das genauso als Hintergrund auch in den ernstesten Werken Mozart spürbar ist, die erwähnte Herausforderung an den kreativen, sensiblen Zuhörer, der den Hinweisen folgen kann? Auf jeden Fall kann man sagen, dass das Lehrhafte, das Didaktische, das Erklärende oder das Zwingende, was ein unvermeidbares Element der Ästhetik vieler großer Komponisten ist, bei Mozart nirgendwo zu finden ist. Er lehrt nicht, er schenkt uns höchstens eine Möglichkeit.

Es gibt noch weitere Lieder, die solche großartigen musikalischen Porträts sind, die die Phantasie des Zuhörers herausfordern. Luisa zum Beispiel, die bei der Briefverbrennung ihre ganze Kraft zu einem entschlossenen Stolz sammelt und dann im Nu schwach, geschlagen und zärtlich, immer noch verliebt erscheint.

Aber es gibt wohl kaum ein Lied – und nicht nur bei Mozart, sondern überhaupt – das uneinheitlicher wäre als Das Veilchen. Während der ca. drei Minuten, die dieses Meisterwerk dauert, wechseln sich fast alle erdenklichen Stile ab: einfache, spielzeugartige Pastoralenmusik, ein Straßenlied, Opera seria – Arioso und Rezitativ, „naturalistische“ Illustrationsmusik (die Schritte des Mädchens) und schließlich die ernste mozartsche „Erleuchtungsmusik“. Und nach dem Schluss noch der ironische, alles relativierende, fast unverschämte Kommen- tar: das arme Veilchen! Mit größtem ästhetischen Genuss erkennt man die Figuren, die in dem Lied porträtiert sind: der Erzähler, das Mädchen (eher karikaturistisch) und vor allem das Veilchen. Binnen Augenblicken erlebt es eine Verwandlung von einem einfachen, bäuerlichen Burschen zu einem Ekstatiker, der eines Liebestodes würdig ist (an der Stelle muss ich an ein Experiment denken, von dem man mir einmal erzählt hat: Ein tiefsinniger Komponist hat mit Hilfe moderner Technik die ganze Oper Tristan und Isolde auf ca. fünf Minuten zusammengepresst) – das ist aber in der Musik die gleiche Person, das- selbe Veilchen.

Auch die Konzertarien – wie natürlich die Opern – bieten eine wunderbare Galerie von „musikalischen Porträts“.
Und wie ist es mit der instrumentalen Musik? Ich behaupte ja, dass das Einheitsmodell bei Mozart allgemein ein Modell der Persönlichkeit ist (oder besser gesagt, eine Auseinandersetzung mit der Problematik der Persönlichkeit). Heißt das, dass man sich hinter jedem Stück ein konkretes Gesicht, eine Figur vorstellen soll? Ich würde sagen, das bleibt dem freien Semantisieren überlassen und könnte vielleicht zum Thema einer der statistischen Untersuchungen werden, die heute so beliebt sind. Für mich (zumindest zurzeit) sind viele Werke des mittleren und späteren Mozarts Personen, manchmal Offenbarungen seiner eigenen Persönlichkeit.

Das bedeutendste technische Mittel, das diese problematische Einheit ermöglicht, ist in der vokalen und in der instrumentalen Musik das- selbe, nämlich die Form der Periode; bei Mozart wird das Thematische an sich noch nicht so dominierend wie etwas später in der Musik –, die Periode ermöglicht ihm in den festen, klar definierten grammatikalischen Grenzen unterschiedlichstes Material zu vereinen, wobei die kontrastierenden Abschnitte klar und eindeutig voneinander getrennt werden. Die Periode also, dieses Zaubermittel der Klassik, gefährdet hier noch nicht die komplexe Einheit der Form, der Harmonik und der Melodie, von der ich gesprochen habe. Beethoven beginnt dann den Prozess der „totalen Thematisierung“, und nach Schumann verliert die Periode ihre Bedeutung zu Gunsten der Thematik als tragende Linie. Die Periode wird dann immer mehr von der Gebrauchsmusik benutzt und erlebt sogar eine pikante Metamorphose, wenn sie von der Wiener Operette in die sowjetische offizielle Musik übergeht.

Bevor wir zur „Fior di diabolo“ kommen, wollen wir uns noch kurz Mozarts Opern allgemein anschauen. Denn da haben wir für die Protagonisten genau solche musikalischen Porträts, die aus mehreren ein anderer ergänzenden – wenn auch manchmal einander entgegengestellten – Auftritten bestehen. Es ist Mozarts Technik in der Oper, den Helden nicht zwei Mal in demselben Licht auf die Bühne zu lassen; jeder neue Auftritt geschieht in einer neuen Situation, sodass wir neue Seiten des Charakters entdecken und gleichzeitig auch seine Entwicklung, natürlich unter der Voraussetzung, dass wir auch ohne Leitmotive und dergleichen den gleichen Helden in der Musik erkennen können. Die Musik ist eindeutiger, genauer und differenzierter, als jede Regie es sein kann.

Es ist eine Tatsache, dass viele Figuren in Mozarts Opern immer noch lebendig bleiben. Sie sind eine Bestandteil des europäischen kulturellen Mythos, Bewohner des Ideenhimmels unserer Kultur. Warum? – sie sind ja keine Helden wie Achilles oder Odysseus (= Leopold Bloom), Don Giovanni vielleicht ausgenommen. Ich denke, weil sie so unbeschreiblich paradox echt und lebendig sind. Sie verkörpern das Geheimnis der Seele.

Erst jetzt komme ich zu der Bemerkung, die ich eigentlich in diesem viel zu lang gewordenem Aufsatz formulieren wollte.
Nehmen wir an, die Treue ist ein Ausdruck oder ein Zeichen der Gleichheit der Persönlichkeit mit sich selbst. Bleibt man seinem Geliebten unabhängig von allen Umständen treu, so ist die eigene Einheit gewissermaßen garantiert. Diese Annahme ist schon ein Bestand- teil unserer Kultur, wobei es nicht unbedingt nur um die Treue zu dem Geliebten, sondern auch um die Treue dem Staat gegenüber, dem Glauben, der Ehre etc. geht. Treue ist eine eindeutig positive Qualität, die nicht nur dem Subjekt der Treue hilft, seine Identität zu bewahren, sondern auch für seine Nächsten von großen Nutzen ist: Man kann auf ihn zählen.
So ist es auch in der Entführung aus dem Serail. Die Treue ist die gefeierte Tugend, und alle bleiben die ganze Zeit sich selbst gleich. Eine komplexe Entwicklung der Charaktere gehört nicht zu dieser Ästhetik, und Mozart schenkt uns hier einfach mit unendlichem Humor und Fantasie geschaffene „Spielfiguren“.

Im Figaro wird die Treue zum zentralen Thema. Sie wird unter- sucht, geprüft, auseinander genommen. Jeder der (so faszinierend unterschiedlichen und lebendigen) Protagonisten hat eine eigene Beziehung zu ihr –, aber alle zweifeln an ihr und nicht alle streben sie an (Cherubino ist das personifizierte Verliebtsein, aber auch die personifizierte Untreue). Jeder der Helden bewahrt fraglos seine Identität, seine gegensatzvolle, dynamische, sich ändernde, nicht festhaltende, aber einzige und unverwechselbare Identität, auch wenn jeder von den anderen, und vor allem von der Liebe, manipuliert wird. Sogar die Nebenrollen, die sich überraschend von dem „Bösen“ in den „Guten“ verwandeln. Am Ende siegt die Treue und bewahrt ihre tugendhafte Qualität, das – durchaus realistische! – Happy End ist schwer verdient und hat alle (außer Cherubino...) verändert. Und wer weiß, wie es weiter gehen wird.

Die unglaubliche Radikalität der nächsten Oper in der „Treue- Reihe“ ist wohlbekannt und viel besprochen. Alle Rollen in Don Giovanni, der Komtur (und sogar die ganze Himmlische Gerechtigkeit) inklusive, sind auf das Schärfste ambivalent. Ist Treue möglich? Ist Treue gut? Ich möchte nun des Lesers Aufmerksamkeit bei dieser Oper, die eine Grenze darstellt, auf die Situation mit der Einheit lenken. Hier ist nicht nur jede (außer Masetto?) Person auf ihre Weise gespalten, mit ihrem Leben unzufrieden und eher auf Identitätssuche (auch die traditionellen Verwechslungen und Verwandlungen bekommen eine tiefere Bedeutung). Die gespaltenen Helden stellen zwar das Problem der Einheit der Persönlichkeit dar, bleiben aber dank der genialen und meisterhaften Musik jeder an sich unverwechselbar und einheitlich (hier taucht das Thema der persönlichen Ästhetik auf, des Stils – ist nicht überhaupt der Stil der ausschlaggebende Faktor, der eine Persönlichkeit ausmacht?), aber der Grad der Einheit (wenn man es so nennen kann) dieser großartigen Oper erreicht nicht den idealen, absoluten Grad von Figaro. Das große C-Dur des ersten Finales und das große d-Moll des zweiten bleiben unversöhnt. Ich glaube aber nicht, dass es sich hierbei um einen Hauch des Existenzialismus handelt: es ist keine Verneinung der Einheit, sondern eine Reihe von Fra- gen über sie, Fragen ohne Antworten.

Eine überraschende, mutige und realistische, paradox optimistisch-pessimistische Antwort kommt in Così fan Tutte. Die Untreue gewinnt, die Einheit der Persönlichkeit geht in eine komplexe Dimension über. Das „Ich“ ist nur die Spitze des Eisbergs.(Don Alfonso verdient sein Geld wie ein Gruppentherapeut –, er weiß aber, dass er den anderen nur das zeigen kann, was er schon erfahren hat – aber er selbst ist auch nicht anders – così fan tutti.) Jeder ist eins mit sich selbst und jeder ist ständig in Veränderung, jeder ist voller Gefühle, aber die lassen sich nicht steuern – wem gehören sie denn? – jeder kann sich selbst nur durch Liebe kennen lernen und in der Liebe verliert man sich. Man bleibt mit sich selbst eins, aber alles in einem ändert sich: wo soll denn dieser Kern der Einheit sein?
Die Frage nach der Einheit der Persönlichkeit hat mit der Frage nach dem ewigen Leben zu tun.

Deswegen hat die Vorstellung einer relativen, vergänglichen Einheit so einen traurigen, trostlosen Beiklang. Die Vergänglichkeit bedeutet aber für Mozart keinesfalls eine Entwertung. Die komplexe, paradoxe menschliche Seele, die zur Liebe und zum ästhetischen Erlebnis fähig ist, bleibt die Krönung der Schöpfung.

Dass die Liebe ein Katalysator für die Leistung der Persönlichkeit ist, eine Energiequelle für die Arbeit der Einheitlichkeit, geht nicht nur aus den Opern deutlich hervor, sondern lässt sich als eine Art „erotisches Feld“ auch in der Instrumentalmusik spüren. Und zusammen mit dem Gefühl der Vergänglichkeit macht es den Eindruck, als ob das Hohelied und der Ecclesiastes gleichzeitig erklingen.

Ich kann mich von dem verehrten Leser an dieser Stelle noch nicht verabschieden, denn ich habe das Gefühl, dass ich ihm noch – mindestens – eine Erklärung schuldig bin. Wenn ich vom Verhältnis des Rationalen und Irrationalen in verschiedenen Stilen gesprochen habe, tat ich es nur, um meine Vorstellung der mozartschen Ästhetik deutlicher zu machen. Dabei habe ich ein Thema eröffnet, das gar nicht selbst- verständlich ist und das vielleicht in einem anderen Aufsatz zumindest skizziert werden sollte.
Jede ernsthafte neue Ästhetik (und das hinter ihr stehende Welt- empfinden) konfrontiert mit dem Irrationalen (manchmal mehr, manchmal weniger bewusst) und bewertet es aufs Neue.

Manchmal wird es gefeiert, wie bei den Romantikern, manch- mal eher verdrängt, wie bei der „wissenschaftlichen“ Musik; die Präsenz des Irrationalen ist das, was den Unterschied zwischen Mendelssohn und Schumann, Bizet und anderen der französischen Oper oder Mussorgsky und jedem möglichen des Mächtigen Häufleins ausmacht. Selbst die musikalische Logik und Didaktik Beethovens zeigt eine ständig wachsende Zuneigung zum Irrationalen. Der Anteil des Irrationalen ist immer unterschiedlich und oft überraschend (man denke zum Beispiel an die französische Barockmusik, wo ein ins Detail differenziertes, rationalisiertes und ausgeklügeltes, etikettenhaftes ästhetisches System auf wilden, fast tierisch-körperlichen Grundlagen basiert. In meiner Skizze der Einheitsmodelle kann man vielleicht noch einige weitere Beispiele finden) – aber es liegt selten eine Balance vor, eine echte Synthese – so ungefähr wie es im Talmud heißt: Alles ist im voraus bestimmt, aber die Freiheit ist gegeben.

Ich glaube dass in der Musik vier Stile zu finden sind, in denen diese Synthese, diese Ambivalenz zu spüren ist (und außer in der Musik gibt es diese vielleicht gar nirgends):
Bei Bach gleicht die außergewöhnliche Intensität der Strenge der Konstruktion der Intensität der religiösen Emotionen, die an zwei zentralen Wundern des Christentums haften. Die Welt mag unendlich schön und perfekt organisiert sein, aber weder Sünde und Leid, noch Heilung und Rettung lassen sich rational verstehen und am wenigsten – das Paradoxon des Opfers. Das verstehe ich als zentrale Frage der Theologie: das „Wissenschaftliche“ soll so ausgeprägt und genau sein wie möglich, aber sie ist nichts ohne den emotionalen und praktischen Teil des Gott-Dienens.
In der Kunst der Fuge wird es noch kabbalistischer: Hier spielen die christlichen Emotionen weniger eine Rolle als die Vorstellung, dass die Schöpfung nur durch einen persönlichen Gott, und nicht durch bloße Mechanik oder Zufall möglich ist.
Über Mozarts Synthese der Persönlichkeit (das Universum oder die Geschichte bleiben in dieser Ästhetik „draußen“, aber doch nicht ausgeschlossen –, sie können nur nicht selbstständig, unabhängig von unseren Gefühlen „herein“) haben wir gerade gesprochen.
In einem Essay über Schuberts Ästhetik habe ich versucht, über die Ambivalenz der Vision/der Realität zu schreiben (s. folgender Essays). Und was Bruckner betrifft, möchte ich im Moment nur eine kurze Formel bringen, die mir die Besonderheit seiner Ästhetik einigermaßen auszudrücken scheint: die Ambivalenz der Komplexität (der Einfachheit) oder – das unbewusste Wissen.

Ich habe bei Mozart über Realismus gesprochen: Er geht davon aus, dass die Prinzipien, die seine Figuren (auch in der Instrumentalmusik) bestimmen, die gleichen sind, die bei realen Menschen die Persönlichkeit bestimmen.
Man könnte aber bei all diesen vier Komponisten von Realismus sprechen, und zwar nicht nur im modernen Sinne (denn nur ein ambivalenter, paradoxer Text hat einen Anspruch auf Realitätsnähe), sondern auch im scholastischen, eher magischen Sinne, denn diese Musik ist ein wirkungsvoller, lebendiger Teil der Realität.

Müssen Gefühle überhaupt auf die Realität antworten? Oder reicht es, dass sie selbst Realität sind? Erlauben Sie mir noch zum Schluss – damit wir etwas zusammen weinen können – das entsprechende Quintett aus Così zu erwähnen, das so zurückhaltend und vorsichtig anfängt und in einem beispiellosen Gefühlsausbruch endet. Gibt es überhaupt etwas Erhabeneres, Ergreifenderes als diese reine Schönheit? Und das sind die drei Säulen, auf der sie ruht: Betrug, Dummheit und Herzlosigkeit.