Boris Yoffe English Deutsch Русский
Fremde Stimmen - eigene Sprache. Schostakowitschs Paradoxie (Vortrag)

I. Begrüßung und Entschuldigung. Ich bedanke mich für die Einladung und entschuldige
mich, dass ich als Dilettant nicht ein fertiges Papier vorlesen werde, sondern über einige
Themen frei sprechen werde in der Hoffnung, mit der verehrten Zuhörerschaft in Dialog zu
treten. Ich entschuldige mich weiter dafür, das ich an manchen Stellen obszönes Vokabular
zuhilfenehmen werde.
II. Meines Erachtens kennzeichnen jeden großen Künstler nur ihm eigene Paradoxe. Bei
Schostakowitsch finde ich sechs Paradoxe, die freilich nur in ihrem Zusammenhang zu
sehen sind.
1. Das „Charmsische Paradoxon“. Hier beziehe ich mich auf die Ästhetik des Dichters Daniil
Charms, die m. E. eine Art negative Theologie ist: die Sprache ist so unvollkommen,
schmutzig, dumm und falsch, dass sich damit sowieso nur Dummes und Blödes sagen
lässt. Das Reine, Hohe, Geistvolle, Schöne wird so ausgegrenzt und durch Abwesenheit
hervorgehoben. Hohe Kunst wird mit niedrigem, hässlichem Material geschaffen.
Ich zitiere hier meinen Lehrer Adam Stratievski, selbst Schüler von Michail
Druskin: Kunst ist, wenn die Scheiße auf der Leinwand dargestellt ist und nicht
draufgeschmiert.
Schostakowitsch bedient sich aller Arten grober, vulgärer, geschmackloser,
hässlicher Musik – wie ein Filmemacher, der ja nicht selbst malt, sondern fotografisches
Material verwendet, und er schafft aus diesem Material das Hohe, Schöne und Erhabene.
(Die Parallelen zu Gustav Mahler, Alban Berg u. a. lasse ich jetzt unbesprochen. Als ein
Gegenbeispiel aus der Umgebung Schostakowitschs könnte man Boris Titschschenko
erwähnen, der mal einen Pistolenschuss, mal eine zerbrochene Glasscheibe, mal Infraschall
in seine Werke einbaut, um das Publikum zu beeindrucken: hier wird „Scheiße
draufgeschmiert“).
2. Menschenhasser als Menschenfreund. Es ist kaum zu bezweifeln, dass alle (mich selbst
eingeschlossen), die an Schostakowitsch denken, sich seine Musik als höchst human und
seine Persönlichkeit als höchst anständig und menschlich vorstellen. Dabei ist es kaum
möglich, ein schärferes Beispiel von Musik zu finden, die so durch Menschenhass und
Menschenverachtung motiviert wäre. Musik, in der so schonungslos und mit solcher
Besessenheit die Menschheit als vollkommen diskreditierte, dumme und aggressive Masse
porträtiert wäre, mit ihrem Spass am Zerstören und gegenseitigen Quälen. Die für mich
persönlich stärkste Stelle in Babij Jar ist der Moment, wo die russischen Nationalisten mit
der Melodie des fröhlichen Volkslieds „Ah vy seni moi seni“ dargestellt werden, die hier
regelrecht zum Himmel stinkt. Aber auch der Höhepunkt des Satzes mit dem Text „und
deswegen bin ich ein wahrer Russe“ ist verbissen parodistisch. Es wäre genug, um
als Russophobe angeklagt zu werden, wie z. B. als „Germanophobe“ wegen der
Durchführung des ersten Satzes der Siebten. Ich empfinde hier aber auch allgemeinen
Menschenhass, der sich nicht wirklich mit einem Verweis auf einen Protest gegen
Faschismus, Kommunismus oder vulgären Geschmack relativieren lässt.
Ob es sich nicht um eine allgemeine Schmähung (ich erlaube mir hier das Wort
„Verarschung“ zu verwenden) des eigenen Zuhörerschaft geht – viel radikaler als
beispielsweise in der heute anerkannten Gattung der „Publikumsbeschimpfung“ (da merkt
ja das Publikum, dass es beschimpft wird) – ist vielleicht die interessanteste der Fragen, die
ich stellen will.
3. Antisowjetisch oder sowjetisch? Es ist einfach, sich einen antisowjetischen
Schostakowitsch vorzustellen, der tapfer mit Mitteln der Satire, Parodie und Groteske gegen
Stalin und weitere kommunistische Bösewichte kämpft. Für dieses Bild gibt es genug
Belege. Allerdings hat ausgerechnet Schostakowitsch das Ideal der sowjetischen
sozialistisch-realistischen Musik realisiert, unvergleichlich besser als alle seine zahlreichen
Kollegen, die sich redlichste Mühe gegeben haben. Und das von Stalin persönlich
formulierte Paradigma der sowjetischen Lied-Symphonie fand nach einem langjährigen
Wettrenen von dutzenden Komponistenverbands-Mitgliedern seine großartige Realisierung
in der 11. und 12. Symphonie von Schostakowitsch, der sie ja auch nach Stalins Tod
geschrieben hat, zu der Zeit, wo man ihn nicht mehr zum irgendetwas wirklich zwingen
konnte. Es handelt sich um eine solche Symphonie, die als Themen entweder echte
Volkslieder (wie zum Teil in der Elften) oder volksliedhafte Melodien (wie in der Zwölften)
verwendet, die leicht erkennbar sind und eine eindeutige Semantik besitzen, die sich im
Verlauf der Symphonie so entwickeln, dass jeder auch unvorbereitete Zuhörer den in der
Musik dargestellten Kampf des siegreichen völkischen Guten mit dem irgendwelchen (hier
darf sich die Fantasie des Komponisten mehr entfalten) Bösen nachvollziehen kann. Auch
die Dreizehnte passt noch gut in die Vorstellung von erlaubter „konstruktiven Kritik“ – im
Gegensatz zu beispielsweise der unendlich mutigen und heldenhaft frechen Neunten. Unter
sowjetischen Intellektuellen war die Vorstellung von Schostakowitsch als eines Propaganda-
Hofkomponisten sporadisch ebenfalls vorhanden, man denke nur an Galina Ustwolskaja
oder Viktor Suslin.
4. Selbstwahrnehmungs-Paradoxon. Die Spanne der Selbstwahrnehmung
Schostakowitschs ist auffallend und bekannt. Einerseits ist ihm sein unglaubliches Talent,
sein großartiges Können völlig bewusst, andererseits ist seine Bescheidenheit fast
sprichwörtlich geworden. Beides kommt in seinen Briefen und anderen Texten gut zum
Vorschein, aber viel stärker noch in der Musik. Und auch dies ist ja ein in der
Musikgeschichte eigenartiges Phänomen: der Umgang mit einem Monogramm-Motiv, mit
dem der Komponist als Person selbst auftritt. Das DSCH-Motiv verleitet geradezu zu einem
Bach-Vergleich, diese Parallele ist offensichtlich und bekannt genug. Auch das gigantische,
heroische Erscheinen von DSCH in der Zehnten ist eindeutig. In seinen späten vokalen
Zyklen spricht Schostakowitsch auch ziemlich offen über die Bedeutung und das Schicksal
seines Nachlasses. Als krasses Gegenstück zu diesen Beispielen kann man die Kapitän-
Lebjadkin-Lieder nehmen, die die ernsten Lieder quasi verzerren, sowie die noch mehr
selbstverspottende, ja selbstvernichtende Verwendung des Monogramm-Motivs, wie es in
dem Vorwort-Stück vorkommt oder meines Erachtens auch im Walzer des 8. Quartetts: Hier
erscheint das Motiv als einer Art schmeichelnder und dienstbereiter Lakai… Ohne ein
eigenes moralisches Urteil wagen zu wollen, kann man freilich die Schwankungen der
Selbstbewertung – von hoch bis niedrig, von heldenhaft bis feige – erahnen. Auf jeden Fall
sind sie ein wesentliches Element der Ästhetik, von allen anderen Dingen abgesehen. Zu
diesem, an sich schon paradox widersprüchlichen, Bild kommt noch als Dissonanz das
freiwillige Schaffen von recht grossartigen Propaganda-Werken (wie den beiden Lied-
Symphonien. Ob die Elfte tatsächlich Bezug auf das sowjetische Eingreifen in
Ungarn nimmt, lasse ich hier unbesprochen).
5. Ob man das Monogramm als eine Art Zitat sehen soll, ist fraglich, auf jeden Fall aber ist
es ein Symbol mit deutlich aussermusikalischer Semantik. Jedoch ist es in der Ästhetik
Schostakowitschs keine Ausnahme: sein Gesamtwerk kann man als einen Ozean von
Symbolen, Allusionen, Karikaturen, Hinweisen und Zitaten aller Art betrachten. Wichtig ist zu
bemerken, das seine Arbeit mit solchem Material (siehe auch Punkt 2) ein vollkommenes
Pendant in seiner Technik der Fortbildung findet: das „dokumentarische“, „fotografische“
Material wird zu einem narrativen Geschehen mit Mitteln des Filmemachens, der Montage.
Allgemein bekannt ist, dass er in den 2., 3. und teilweise 4. Symphonien mit der Montage-
Technik so weit kam, dass das traditionelle musikalische Prinzip von Wiederholung und
Änderung, des Wiedererkennens, überflüssig wurde und darauf weitgehend verzichtet
wurde. Da tritt das Wiedererkennen des zitathaften Materials gänzlich auf den Vordergrund.
Aber auch die akademisch aufgebauten Formen operieren mit solchem Material, was oft zu
einem gewollten Widerspruch führt (man denke z. B. an das Scherzo der Fünften, dessen
Entwicklung gegenüber dem anfänglichen „serioso“-Unisono überrascht, oder an die
Neunte mit ihrem spöttischen – gründlich vorbereiteten – Seitenthema oder ihrer überbraven
Durchführung). Das fünfte Paradoxon beschreibe ich als „fremde Stimmen – eigene
Stimme“: es ist letztendlich kaum möglich etwas bei Schostakowitsch zu finden, was nicht
als ein Zitat im weiten Sinn gesehen werden könnte, sei es Material, sei es die Textur, ja sei
es sogar die Form. (Übrigens hat auch die „Fleischwolf-Form“, die sich immer weiter, ohne
Wiederholungen, entfaltet, und sich quasi jeden Materials bedient, das gerade auf dem Weg
liegt, ein grossartiges Vorbild, das Schostakowitsch kannte und schätzte.
Musikbeispiel aus der Ersten Popows
Hier muss ich meine früheren Versuch (in einem Essay) erwähnen, eine Klassifikation
der Zitate zu schaffen: in Hinblick auf den Wahrnehmenden, also mit Zitaten angefangen,
die ganz genau erkannt werden sollten und ihren Kontext „mitbringen“, wie Stalins
Lieblingslied Suliko, bis hin zu Zitaten, die versteckt, unerkannt bleiben können und
vielleicht eine persönliche Botschaft für einen konkreten Adressaten haben. Hier erzähle ich
eine Geschichte, die ich von Ivan Sokolov gehört habe: Ein Moskauer Musikstudent, der
sich mit versteckten Botschaften bei Schostakowitsch befasst hat, hat unter anderem
gemeint, dass das Motiv aus drei Tönen d-e-d, das in der Siebten aber auch in der Achten
gut erkennbar ist, ein Hinweis auf Schostakowitschs Opa (Russisch: DED), den polnischen
Revolutionär Boleslav Schostakowitsch sei.
An dieser Stelle möchte ich auch über das 5. Quartett sprechen, dessen erster und
letzter Satz mit einem Ustvolskaja-Zitat regelrecht gekrönt wird, so dass die gesamte Musik
des Quartetts wie eine würdige Umgebung für die Melodie Ustvolskajas wirkt. Das
Hautthema des ersten Satzes verwendet auch das Monogramm-Motiv und ist gleichzeitig
eine Spiegelung des Ustvolskaja-Motivs. Auch das Seitenthema scheint eine versteckte
Botschaft zu haben, es ist das gleichzeitige Erklingen eines operettenhaften Walzers und
eines strassenmusikhaften Marsches.
Im langsamen Satz erklingt eine sehr volkstümlich anmutende liedhafte Melodie, der
letztendlich ein feierliches Abschnitt folgt, in dem man vielleicht Anklänge an Lady Macbeth
hören kann, wo ich aber vielmehr einen Hinweis auf den Hochzeitsmarsch aus
Schumanns Frauenliebe und Leben höre. Ich würde mich freuen, mehr über dieses
Ausnahmewerk zu erfahren, und bin gespannt, ob man nicht das Gesamtmaterial des
Quartetts irgendwie biografisch entziffern kann – mit der Verbindung zu der
Beziehungsgeschichte zwischen dem Meister und seiner Lieblingsschülerin. Hier haben wir
übrigens ein Beispiel, wo die Arbeit mit Zitaten keine groteske, parodistische Absicht
offenbart.
Hier würde ich gerne noch ein Thema berühren, nämlich die gegenseitige Einfluss
von Schostakowitsch und einigen Komponisten aus seiner Umfeld, die warum auch immer
heute kaum gespielt oder besprochen werden. Dass Schostakowitsch selbst eine enorme
Einfluss auf sowjetische und postsowjetische Musik ausgeübt hat ist unbestritten; die
Beispiele sind unzählbar. Auch Schostakowitsch war selbstverständlich nicht taub
gegenüber Musik seiner Kollegen, so kann man z. B. über gewisse Einflüsse Weinbergs auf
jüdisch stilisierte Musik Schostakowitschs spekulieren, wobei die Abhängigkeit Weinbergs
von Schostakowitsch ist offensichtlich enorm. Ganz anders ist es mit Gavriil Popow, der
eine Art Vorbild für Schostakowitsch in den jungen Jahren war und dessen symphonisches
und filmmusikalisches Schaffen laut einigen Quellen Schostakowitsch Leben lang sehr
interessiert hat. Dabei ist Popows Musik kaum von Schostakowitsch beeinflusst! Ähnlich ist
es mit dem Schaffen Galina Ustwolskajas; sollte man darüber spekulieren, wem von den
sowjetischen Komponisten hat der Meister noch hoch geschätzt, so käme m. E. noch
Alexander Lokschin in die Reihe (es gab natürlich auch einfach respektvolle freundliche
Beziehungen zu Komponisten wie B. Ljatoschinski, D. Klebanov oder B. Klüzner).
Unter den elf Symphonien Lokschins vertreten zehn die Gattung „vokale
Symphonie“ (nicht mit der stalinschen Lied-Symphonie verwechseln!), meistens ganz
ähnlich wie die Vierzehnte Schostakowitschs aufgebaut (und oft genauso zu den
Übersetzungen aus der westlichen Poesie). Schostakowitsch kannte und schätze sehr die
Erste Lokschins (Dies irae - allerdings auf Latein), und die 13. ist gleichzeitig mit der 2.
Lokschins entstanden (Griechische Epigramme).
Der detaillierte Vergleich des beiden Komponisten wäre höchst interessant, weil trotz
viele auffallende Berührungspunkte bleibt Lokschin, der eventuell „westlichste“ unter den
sowjetischen Komponisten, weitgehend frei von Einflüssen Schostakowitschs.
6. Schließlich möchte ich die letzte Paradoxie formulieren, die mit allem oben Gesagten
zusammenhängt und die auch die meisten von mir mitgebrachten Musik-Beispiele
illustrieren sollen: Was ist denn letztendlich ernst gemeint und was nicht? Lässt es sich
überhaupt feststellen? Oder schärfer: wer wird letztendlich verarscht?
Hier eine Anekdote mit Prof. Rudolf Frisius, mit dem wir einmal mehrere Stunden seine
Frage zu Schostakowitsch diskutiert haben, nämlich die Frage, ob es sich beweisen lässt,
dass die Musik Schostakowitschs, die Herr Frisius platt, plakativ, vulgär, primitiv und
geschmacklos vorkommt, nicht einfach schlecht komponiert ist, sondern wirklich, wie man
ja in den Büchern liest, absichtlich als schlecht stilisiert ist. Manchmal lässt es sich sogar
beweisen, wie in dem Antiformalistischen Rajok oder den Suliko-Stellen, aber auch für diese
Fälle muss der Zuhörer vorbereitet sein, also die Originale kenne, die Schostakowitsch
parodiert. Ohne die Vorlage zu kennen, kann man die Parodie kaum verstehen bzw.
genießen. Das ist m. E. auch das Hauptproblem der westlichen Schostakowitsch-Rezeption
(falls man das Nicht-Kennen der absurden abscheulichen „Gogol‘schen“ Sozialismus-
Realität bezeichnen kann). Hier folgt das Musikbeispiel:
aus dem letzten Satz des 1. Cellokonzertes mit dem etwas versteckten Suliko-Zitat.
Ob die verehrten Zuhörer das Lied erkannt haben? Seltsam, dass auch Rostropowitsch, laut
seinem eigenem Bericht, das Zitat nicht erkannt hat. Allerdings haben es auch die Zensoren
nicht gemerkt, sonst hätte es schlimme Konsequenzen gegeben … Welch ein riskantes
Spiel von Schostakowitsch damals!
M. E. bleibt die Musik des Satzes (eine Art Kremlin-Monster-Orgie) auch gänzlich
unverständlich für jeden, der das Zitat nicht erkennt. Und viel schlimmer: Es gibt eine lange
Reihe an Beispielen von Zitaten, die, unerkannt, angedeutet geblieben, unwillkürlich zur
Verarschung des Publikums aber auch der Interpreten werden. So z. B. die berühmte
Aufnahme der Fünften mit Bernstein, der voll unverstelltem Enthusiasmus das Finale
siegreich marschieren lässt, oder die Zehnte unter Gustavo Dudamel, wo das brutale,
hässliche und stinkende Scherzo zu einem schwungvollem Tanz wird. Lächerlich machen
sich z. B. auch die viele Bratschisten, die mit vollem Ernst den fast dämonisch verstellten 2.
Satz der Bratschensonate spielen.
Hier ein weiteres musikalisches Beispiel: das Scherzo aus dem Klavierquintett mit
Martha Argerich, das absolut harmlos enthusiastisch, sportlich und lustvoll klingt. Das
Publikum beginnt ja sogar zu klatschen direkt nach dem Scherzo!, das für meine
Wahrnehmung aber als bösester Spott gemeint ist.
Musikbeispiel: Klavierquintett
In diesem Scherzo (im Trio) höre ich auch eine makabre Parodie auf eines der
festlichen Laienmusiker-Konzerte, in denen lauter Klassik-Schläger zu hören sind; am
deutlichsten ist das Mephisto-Zitat (aus Gounods Faust) zu erkennen. Schostakowitsch
parodiert aber gerne nicht nur Gebrauchsmusik und Operette: Meines Erachtens kennt er
sehr wohl auch den Spass an einer Art Blasphemie, ein Spiel, bei dem man sich über die
bekannten Meisterwerke der Musikgeschickte lustig macht. Ein solches Spiel funktioniert
nur in einem Kreis von Mitstreitern, und es gab gewiss einen solchen Freundeskreis um
Schostakowitsch. Hier folgt ein kurzer Ausschnitt aus Gawriil Popows Quartett, wo die
„Freude-schöner-Götterfunken“-Melodie misshandelt wird.
Musikbeispiel: Popow
Solche Beispiele auch bei Schostakowitsch gibt es genug: bestimmt haben viele
sich gefragt, ob das Thema des ersten Klavierquartett nicht sich über
Beethovens Appassionata lustig macht, oder haben die suspekte Ähnlichkeit eines Jazz-
Tanzes mit dem Bolero von Ravel gemerkt (die berühmte Invasions-Episode ist ja auch mit
Sicherheit ein Anti-Denkmal des Bolero, sage man was man wolle).
Am Schockierendsten für mich persönlich ist die groteske Verzerrung des Themas
aus der g-Moll-Symphonie Mozarts, wie sie im Finale des 2. Violinkonzerts vorkommt. Ich
kann es nur als eine Ohrfeige empfinden im Sinne: … alle sagen - Mozart, Mozart… Und
was ist denn Gutes an Mozart? Nur ein beschissener Galopp ist das …
Die späten Wagner-Zitate sind kaum als Spott zu verstehen, wobei die Verzerrung
der Liebestod-Melodie (auch im 14. Quartett) als besonders vieldeutig – bis hin zu Tod und
Zerfall – erscheint. Auch die vielen Selbstzitate im Spätwerk öffnen neue Perspektiven zur
Überlegungen über das Phänomen Fremd und Eigen allgemein. Die Eröffnungs-Melodie aus
dem letzten Satz der Bratschen-Sonate stellt einen besonders enigmatischen Fall dar, da es
ein Selbstzitat ist, das aber doch als selbstverspottendes Wagner-Zitat (Beckmesser) wirken
kann. Und selbst die buchstäblich herzzerreißende (hier ist einem, als ob das Herz jeden
Moment still stehen konnte) Mondschein-Motive können böse parodistische Assoziationen
zu Popows berühmter Musik zum Film Tschapajew wecken.
Um das Thema der sozusagen totalen Verarschung zu verdeutlichen, die zumindest
in der Leningrader Gesellschaft - seit Gogol! - omnipotent war (man kennt es natürlich aus
der Literatur von und um Charms, aber ich würde die verehrte Zuhörerschaft auch z. B.
gerne mit dem grossartigen Oratorium Zwölf von V. Salmanov bekannt machen. Hier
möchte ich einen Ausschnitt aus einem Interview mit Juri Chanon zitieren, einem
Komponisten, der in den späten 1980-er Jahren fast einen Kultstatus in Leningrad hatte.
Я …работаю в технике продлённой лжи и обмана. А здесь есть одна
маленькая хитрость: все обманутые должны веселиться — и впоследствии приходить
за обманом ещё и ещё... Они не должны скучать. И даже более того: им должно
нравиться, что их надувают. (1991)
Ich arbeite in der Technik der verlängerten Lüge und Betrug. Und hier gibt es einen
Trick: alle Betrogenen müssen sich amüsieren -, und immer wieder kommen, um betrogen zu
werden. Sie dürfen sich nicht langweilen. Mehr noch: sie müssen es genießen, dass man sie
betrügt.
Und es ist eben so, dass Schostakowitschs Sprache sich nicht so einfach zu einem
entzifferbaren Code machen lässt. Manche Dinge, die immer wieder die Semantik des
Bösen, Lächerlichen oder Hässlichen haben, können plötzlich das Gegenteil bedeuten, und
mitten im offensichtlich ernst Gemeinten, ja Strengen, Schmerzvollen, Traurigen gewahrt
man plötzlich und mit Schrecken ein Augenzwinkern. So nehme ich seine unterstrichen
harmlosen, idyllischen „Pioniermusik“-Themen - wie im Dritten und Sechsten Quartett, oder
im Finale des Klavierquintetts – fast immer als groteske Übertreibung, also als Zeichen des
Bösen, wahr -, aber nicht in der Zwölften, wo das Finale-Thema so charmant und frisch ist,
dass man gerne dem gesamten Propaganda-Märchen glauben will. Oder umgekehrt: die
Musik mit jüdischen Konnotationen hat traditionell – und zu Recht – eine positive Semantik
… bis auf mindestens ein Gegenbeispiel: die „Sumpf-Monster-Musik“ aus dem Finale der
Neunten.
Selbst in der Zwölften mit ihrem heiligen Lenin, die ich bei besten Willen nicht als
eine Parodie wahrnehmen kann, gibt es doch ein Detail, das mir einen Beigeschmack
von verarscht werden schenkt: die ernste Bass-Melodie, die Lenins stolze Einsamkeit im
Versteck darstellt, erinnert zu stark an den Anfang der unvollendeten Oper Heirat von
Mussorgsky, die ja auch mit einem einsamen Protagonisten beginnt: …denkt man doch
richtig nach, so muss man zugeben -, ja, man muss heiraten!