Boris Yoffe English Deutsch Русский
Die Neunte These

1. Der Mensch lebt, ohne zu wissen, wer er ist, warum und wozu er lebt.
2. Dieses Wissen ersetzt er mit einem für ihn glaubwürdigen System von Mythen und
Ritualen.
3. So ein System ist eine Art Kompromiss zwischen dem Individuum und der
Gemeinschaft, der einerseits für eine gewisse rationale Ordnung bzw. Zivilisierung sorgt,
andererseits von unkontrollierbaren Prozessen wie Krieg, Ausbeutung und Zerstörung
bedroht wird.
4. Die Lebensfähigkeit bzw. Glaubwürdigkeit eines Mythen-Ritual-Systems (einer Kultur)
hängt davon ab, inwieweit es dem logischen Denken aber auch der emotionalen Palette
und dem ästhetischen Sinn der Menschen entspricht.
5. Das Ästhetische ist ein unvermeidbares Element jeder Kultur bzw. der menschlichen
Wahrnehmung, das für die unmittelbare Offensichtlichkeit und Erfahrbarkeit von
abstrakten Vorstellungen bzw. Inhalten sorgt.
6. Das Ästhetische manifestiert sich in allen Sphären: es legt beispielsweise die
Unterschiede zwischen einer juristischen Sprache und einem Verbrecher- Jargon fest, die
dann entsprechende soziale Denk-Konstrukte untermauern, es markiert die sozialen
Strukturen in ihrer Mannigfaltigkeit, auch durch Haltung, Kleidung und allerlei andere
Zeichen und Symbole; es ist für die Wirkung bzw. Glaubwürdigkeit von staatlichen oder
kirchlichen Ritualen zuständig, es ist der Kern der mächtigen Unterhaltungs-Industrie,
steckt aber auch in jedem Produkt aller Industrie.
Die verbale Sprache als Modell der Welt ist nie vom Ästhetischen frei und wird in der
Poesie sogar zu einem rein ästhetischen Raum, genauso wie Musik, Theater, bildende
Kunst sich vom religiösen bzw. sozialen Ritual lösen und zu eigenständigen ästhetischen
Sprachen werden. Die naturwissenschaftliche Formel-Sprache ist auch nicht frei von
Ästhetik - wie vermutlich sogar eine Programmier-Sprache.
7. Allerdings bietet heute fast nur die Naturwissenschaft - unter besonders günstigen
Umständen - dem Menschen eine Möglichkeit, sich vollkommen zu entfalten, in seinen
intellektuellen Kräften vereint mit seiner Kreativität und Fantasie. Alle anderen
Möglichkeiten gruppieren sich um Mythen und Rituale, die ihre Glaubwürdigkeit verloren
haben - somit verliert das Ästhetische an Aktualität. Es wäre aber eine Katastrophe, wenn
mit den erblassten religiösen, politischen, historischen, pseudowissenschaftlichen Mythen
auch die mit ihnen verbundene Kunst zu Grunde ginge. Ein Untergang des Ästhetischen,
ein postpositivistischer Alptraum, in dem die wenigen begabten und gebildeten
Menschen sich experimentell mit den Geheimnissen des Seins befassen, während der
Rest der Menschheit stumpf erwartet, dass die Wissenschaftler endgültige Wahrheiten
fänden - und sich in der Zwischenzeit mit allerlei Unterhaltung und „Spass“ betäubten.
Ein fauler postmoderner Brei aus allmöglichem Aberglauben, Media-Propaganda,
Werbung, Schulprogrammen, Sex, Urlaub und Shopping auf der einen Seite - NASA,
CERN, E-ELT auf der anderen.
Die Kreativität eines Menschen, der eine hervorragende naturwissenschaftliche Kariere
nicht geschafft hat, schrumpft zu einer Kauf-, einer Selfie-Kunst -, oder entfaltet sich
freilich zu einer Schwindel-Kunst des Geld-Machens.
8. Ein kleiner Teil der globalen Schwindel-Bewegung (winzig klein im Vergleich zu
Waffen-, Drogen-, Menschenhandel- oder Tourismus-Industrien) ist der moderne
Kunstbetrieb, der sich darauf konzentriert, einem Menschen, der wenig weiss und wenig
kann, das Gefühl zu vermitteln, er könne und wisse viel. Selbstbetrug ist freilich ein
legitimer, ja fundamentaler Teil jeder Kultur, aber - vermutlich - selbst eine aktive
Teilnahme an einem sakralen Zyklus wie ein Kirchenjahr hat an Fantasie, Kreativität,
Emotionalität eines Menschen weit mehr gefordert. Der moderne Pop-Mythos scheint zu
einem „für das Gute, gegen das Böse“ zu schrumpfen, wobei das Gute so etwas ist, wie
ein risikofreier billiger Spass ohne Anstrengung - und der natürlich viel Geld impliziert. Die
Kunst der Vergangenheit wird dabei als Alt mythologisiert - als überholt,
modernisierungsbedürftig, fehlerhaft -, sodass ein totales Verlernen der großen
europäischen ästhetischen Sprachen immer näher zu rücken scheint.
Es geht mir aber nicht darum, die moderne Gesellschaft zu kritisieren - das ist viel zu
einfach, um interessant zu sein, und meine Verbindung zu ihr ist zu schwach ausgebildet
-, sondern um eine Utopie, die ich ihr entgegenstellen möchte, ja die einlädt, diese Utopie
zu verwirklichen.
9. Es geht um das, was man heute Kreativität und früher als Geist bezeichnete. Die
schöpferische intellektuelle und emotionale Kraft des Menschen, das Ästhetische – muss
unabhängig von religiösen, pseudowissenschaftlichen, politischen Mythen bleiben, als
das wertvollste Gut, als alternatives Kapital gegenüber Geld und Vermögen, als das, was
Würde und Verantwortung hervorbringt.
Einmal war es keine Utopie: dass eine entsprechend organisierte, eine scharf
pragmatische und doch poetisch-irrationale, fanatisch-fromme und doch mutig
freigeistige Kultur, welche die Prägung des Ästhetischen, bzw. die Kreativität selbst als
Kapital erkannt hatte, Jahrhunderte lang am Schnittpunkt des Europäischen Orient und
Okzident existierte. Der Rest der Welt hat diese unglaubliche Leistung Venedigs verkannt,
wenn nicht geleugnet, oder vergessen - ob aus Neid, Fahrlässigkeit oder Dummheit. Und
nur in Venedig, wo man gegenwärtig nur ratlos in die Zukunft blickt, könnte eine
Renaissance des Geistes hic et nunc begonnen werden.
Das wäre zunächst auch die beste Antwort auf das Problem des immer wohlfeiler und
barbarischer werdenden Tourismus. Die Stadt könnte zu einem weltweiten Ort der
Kreativität werden, der Bildung, der Liebe zur Tradition und ihrer Weiterentwicklung. Es
gibt genug venezianische Intellektuelle, die dazu beitragen wollten und könnten - aber
auch weltweit gäbe es eine Gemeinde von Kennern und Liebhabern venezianischer
Kunst, Kultur und Geschichte, die am liebsten in Venedig weilen würde, um der Stadt zu
dienen. Freilich sind alle diese Menschen weit von großen Geldquellen und politischen
Lenkern entfernt - man sollte Investoren und Politiker für die Idee gewinnen.
Ein erster Schritt in diese Richtung würde ein offener und breiter Austausch sein, wo
jeder, der sich zum Thema äußern möchte, seine Visionen, sein „Programm-Maximum“
darstellen könnte (zunächst noch ohne sich auf Probleme der praktischen Realisierung zu
beziehen). Ich will nicht zur Bildung einer Gruppe, eines Gesellschaft aufrufen, sondern
stelle mir eine freie Zusammenarbeit von Individuen vor, in der jeder ein Experte auf einem
anderen Gebiet ist und sich für einen breiten Austausch interessiert.
In meiner eigenen Utopie sähe ich ein systematisches Vorgehen - eine gleichzeitige
Lösung unterschiedlicher, wenn auch miteinander verbundener Fragen.
a. Humanistisches Wissen.
Ein Problem ist das Umdenken des positivistischen „historischen“ linearen Zeit-Modells.
Eine tiefe Verwurzelung in der Vergangenheit war einer der besonderen Merkmale
Venedigs - ob dank des byzantinischen Einflusses oder nicht: - sogar einem
erneuerungsbesessenen bzw. selbstbesessenen Palladio wurde verweigert, die gotischen
Bauten als „veraltet“ abzuschaffen. Das Ästhetische müsste sich vom „Historischen“
trennen; diese Emanzipation des Ästhetischen führt zum totalen Umdenken des
Museums-Konzeptes und weiter noch, zur Reform der humanistischen Wissenschaften,
die seit Jahrzehnten vergeblich dem Modell der Naturwissenschaften zu folgen versuchen
- ein wirklich überfälliger positivistischer Mythos.
Die Museen sollten dabei keine Panoptika bleiben, wo auf engem Raum Meisterwerke
nebeneinander hängen, stehen und liegen, um dem Besucher die Mühe zu sparen, sie an
ihren Ursprungsorten zu bewundern - eine Barbarei, die auch ihr Ziel völlig verfehlt, denn
kein Besucher kann während den 2-3 Stunden Museumsbesuchs ernsthaft ein Dutzend
Bilder wahrnehmen. Ein weiterer Mythos der Pop-Kultur, die aus Venedig verschwinden
müsste: der Wahn, Bilder gesehen, fotografiert – und somit „erworben“ zu haben. Wenn
die Werke aus der Accademia nach Möglichkeit in ihre Altäre zurückkehrten, für die sie
konzipiert wurden - und man infolgedessen auch Lichtverhältnisse und Architektur in ihre
Betrachtung miteinbeziehen konnte - würde man dazu beitragen, dass so manche Kirche
renoviert und wieder geöffnet würde. Es ist nachvollziehbar, dass es zu dem heutigen Un-
Zustand kam, und doch schockierend und mit nichts zu rechtfertigen, dass ein Grossteil
der sakralen Bauten in Venedig geschlossen und renovierungsbedürftig ist. Ein weiteres
Thema wäre die Vervollständigung von einigen nicht zu Ende gebauten Meisterwerken
(soweit die Baupläne noch erhalten sind), wie man dies z. B. schon vor mehr als einem
Jahrhundert mit den gotischen Kathedralen in Europa gemacht hat -: wie an erster Stelle
Sansovinos Meisterwerk, die Scuola della Misericordia, die auch ohne
Fassadenverkleidung noch grandios wirkt…Dabei ist es offensichtlich, dass es keinen
Sinn macht, Kirchen zu renovieren und offen zu halten, wenn weder Besucher noch
Gläubige sie besuchen. Es würde aber durchaus Sinn machen, wenn interessierte
Besucher bzw. Teilnehmer von Workshops- Kursen- Festivals-, Seminaren- usw.- nach
Venedig aus aller Welt kämen, um sich mit dem Ästhetischen auseinander zu setzten,
eigene Kreativität entwickelten und sich die Vergangenheit zu vergegenwärtigen.
b. Naturwissenschaftliches Forschen.
Die wissenschaftliche Arbeit im Weichbild der Kunst sollte den Naturwissenschaften
überlassen bleiben, die sich mit dem Phänomen der Kreativität beschäftigen, mit Sprach-
Zeichen- Symbol-Systemen, mit Sinn und Quelle des Ritualhaften, mit Bildung von
Mythen und Glaubenssystemen, mit Meditation und anderen spiritualen Techniken. Diese
Forschung, KI-Forschung miteingeschlossen (digitale Modellierung der Kreativität), sollte
in Venedig betrieben werden können - in einem Umraum, wo der Mensch sich einst am
besten und intensivsten als Künstler hatte entfalten können.
Die Stadt soll zu einem internationalen Zentrum werden, einem Magnet für die
Wissenschaftler, die sich mit Bewusstsein, ästhetischen Wahrnehmung, Kreativität, dem
Geist befassen - Neurologen wie KI-Forscher, aber auch Physiker, die sich mit der Natur
der Zeit auseinandersetzen.
с. Dialog mit der Kirche, die Anerkennung der Religion als einen komplexen System von
Mythen und Ritualen, das tief in dem Phänomen der Wahrnehmung verwurzelt und für die
europäische geistige, intellektuelle und ästhetische Tradition unentbehrlich ist.
Die christliche Religion verliert zunehmend an ihrer Bedeutung. Ohne den christlichen
Mythos aber wird die europäische Kunst entseelt, die entsprechenden Sujets, Gestalten,
Symbole werden nicht mehr erkannt, und nicht nur asiatische oder muslimische Touristen
lassen ihre Blicke über die Bilder gleiten, ohne zu begreifen, was sie darstellen, sondern
auch Amerikaner und immer mehr Europäer. Eine Aufklärung im herkömmlichen musealen
Sinn wird da kaum helfen; mir schwebt aber so etwas wie die Praxis der Renaissance vor
Augen: man hatte sich mit Liebe und Faszination mit der Antike auseinandergesetzt, ohne
an Zeus, Venus und Prometheus glauben zu müssen. Genauso tiefsinnig und aktuell ist
die judeo-christliche Mythologie - jenseits der Glaubensfrage. Meine sowjetische Kindheit
war vom Überfluss an Lenin-Denkmälern geprägt -, Lenin stand für Güte, Gerechtigkeit,
helle Zukunft und Weisheit, symbolisierte aber eigentlich Lüge und Gewalt. Anders ist es
in Venedig, wo die Menschen sich mit Madonnen umgeben haben: eine liebliche Jungfrau
mit Kind steht noch immer für das Wunder des Lebens, für die Schönheit und Kraft des
Zarten und Schwachen, genauso wie ein Gekreuzigter für das irrationale Mysterium des
Opfers und des schuldlosen Leidens. Alles Themen, die nach wie vor aktuell bleiben...
d. Bildung
Die Stadt soll zum Zentrum von mannigfaltigen und ausschließlich hochqualitativen
Bildungsangeboten werden - für Menschen jeden Alters und jeder Herkunft (Internate für
arme Kinder und Waisen miteingeschlossen, ganz in der venezianischer Tradition), die
sich der Kultivierung von Persönlichkeiten mit möglichst breitem Wissen- und Können-
Vermögen verschreiben. Venedigs Vergangenheit kann sich wieder als Vorbild dienen: hier
wurde ja Generationen von Menschen ausgebildet, die nicht nur breites humanistisches
und naturwissenschaftliches Wissen besassen, singen, spielen, tanzen und malen
konnten, sondern auch tiefe Kenntnisse in Diplomatie, Politik, Kommerz und Navigation
haben mussten: ohne solche Menschen wäre die Republik lebensunfähig gewesen.
Man soll eine Alternative der engen Spezialisierung bieten - dieser modernen Plage - und
gleichzeitig die Lösungen für das Funktionieren einer Gesellschaft mit ständiger Zunahme
an Robotisierung, Automatisierung von physischen und intellektuellen Arbeit.
e. Kunst
Die Kunst soll man eigentlich nicht zu einem selbständigen Punkt machen, weil ihre
Freiheit und Wertschätzung durch die Entwicklung anderen Sphären garantiert wird.
***
...Aus der heutigen venezianischen Sicht sieht das Ganze vielleicht als ein Umdenken des
Tourismus aus - kein Verzicht auf ihn, aber ein sehr langfristiger und komplexer
Wandlungsprozess, dem der Staat erst eigentlich seine Bedeutung zurückgeben müsste.
Die Biennale-Besucher von heute haben wohl einen besonderen Status - einerseits sind
sie meist interessiert und gebildet, andererseits aber taub und blind gegenüber der Stadt
in ihrer Schönheit und Geschichte. Die Biennale hatte das Ziel, Venedig geistig und
materiell zu modernisieren. Ein Projekt, das einer hundert Jahre alten futuristischen
Sichtweise entsprach. Heute, da die damals so begehrte Zukunft längst eingetreten ist,
fragt man sich eher mit Angst und Scham: was nun? wie soll es weiter gehen? Die
Antwort wäre - alles ist schon da, schauen wir uns um, lernen wir nur, es zu erkennen,
bevor wir es endgültig verloren haben.