Boris Yoffe English Deutsch Русский
Über den Erlkönig

In diesem Aufsatz möchte ich anhand einiger Beispiele zeigen, wie der Erlkönig als Schlüssel
wichtiger Momenten der schubertschen Ästhetik dienen könnte.
Die Problematik des Erlkönigs ließe sich wie folgt beschreiben:
1. Die Einsamkeit des Visionärs. Auch der liebende Vater, der nur damit beschäftigt ist seinen Sohn
um jeden Preis zu retten, kann nicht zur
Realität des Sohnes durchdringen.
2. Die Ambivalenz der Vision. Die Vision kann in ihrer Schönheit,
Anziehungskraft und Intensität die Realität weit überschreiten, bleibt aber bedrohlich und tödlich.
3. Die Ambivalenz der Realität. Am Ende bleibt es unklar, ob die Vision eine Halluzination oder
doch Wirklichkeit ist.
In Der Tod und das Mädchen liegt eine höchst intensive Reduktion des Erlkönigs vor. Der
personifizierte Tod ist so überzeugend charakterisiert sowohl durch seine Redensart als auch durch
die an ihn gerichteten Repliken des Mädchens, dass jegliche Allegorisierung weit überschritten
wird. Die Auseinandersetzung in der Begegnung mit dem weisen und befreienden, aber fremden
und furchtbaren Tod scheint mir intensiver zu sein als im Gesamtwerk Tolstois, oder sogar nach
einem abgeschlossenen Medizinstudium.
Die Schöne Müllerin ist eine Augmentation des Erlkönigs. Hier finden wir den Kontrapunkt zweier
Geschichten: die eine wird im Text erzählt; die Liebesgeschichte vom Gesellen und der Müllerin.
Die andere wird in der Musik gespielt; die Liebesgeschichte vom Gesellen und dem Bach. Wenn
der Bach, der am Anfang als Klavierstimme stets ein Gesprächspartner des Gesellen ist, später
vergessen wird und anscheinend verschwindet, entsteht eine Leere und gewaltige Spannung.
Empfindet der Bach die Hinwendung zum „Grünen“ als Verrat? Schickt er selbst den Jäger aus
grünen Wäldern an seine Ufer? Wie aktiv ist seine Rolle am Tod des Jungen? Auf jeden Fall
gewinnt er den Gesellen am Ende für sich allein.
(N.B... Ich glaube, dass diese Personifizierung des Klaviers eine der Hauptursachen ist, die diesen
Zyklus zu einem Ideal, zu einem Muster der Gattung macht. Ähnlich verhält es sich mit dem
Schwanensee, der als Vorbild für das Ballett fungiert, da die klassische Ballerina an sich eine
Nachahmung des Schwans ist...)
Und die Winterreise muss man wenigstens erwähnen (ein Weg, der auch mit einem Begleiter geteilt
wird – dieses Mal aber mit einem grausam gleichgültigen, feindlichen Wind) – mit dem schönen
Lindenbaum, der sich ja fast für einen kurzen Augenblick in einen Doppelgänger des Erlkönigs
verwandelt.
In Schuberts Instrumentalmusik, die in Moll geschrieben ist, hat oft das Seitenthema (im Fall der
Sonatenhauptsatzform) oder der Mittelteil (in drei- oder fünfteiligen Formen) den Charakter einer
Vision oder eines Traumes, der sich in einem anderen Zeitmaßstab und einer anderen Zeitrichtung
zur Hauptbewegung befindet und dadurch auch endlose Wiederholungen und Variationen initiiert.
Über den tonalen Aspekt dieses Phänomens habe ich in einem früheren Aufsatz geschrieben. Solche
Themen sind dann oft wie Sirenengesang, dem man nicht widerstehen kann, am Ende sich vielleicht
doch vertrauens- voll hingibt.
Ein gutes Beispiel ist die H-Dur Episode aus dem Finale der c-Moll Klaviersonate. Die letzten
Takte vor dieser Episode ähneln einem Ein- treten in den Schlaf. Dann erscheint das gleichzeitig
reine und verführerische Thema wie in einem übernatürlichen Licht.
Im ersten Satz dieser Sonate finden wir auch ein erstaunliches Bei- spiel dafür, wie das Nebenthema
sich in einer, zum Hauptgeschehen „parallelen“ Zeit entfaltet (man könnte auch von einem
„vertikalen“ Zeitpfeil sprechen): so typisch für Schubert und so ungewöhnlich für andere Musik
folgen diesem Thema zwei Variationen, sodass ein abgeschlossener Zyklus innerhalb einer
Sonatenhauptsatzform entsteht; die „erlkönigliche“ Semantik ist auch deutlich zu spüren: das
Thema, das erst wie ein erhabener Chorgesang klingt, wird in der csárdás-artigen zweiten Variation
völlig entfremdet.
Das häufige Fehlen eines Überleitungsthemas bei Schubert hängt mit Folgendem zusammen: um
von einer Realität in eine andere zu fallen, bedarf es nahezu keinerlei „Überleitung“, wenige
Augenblicke reichen aus. So wirkt beispielsweise das Erscheinen des Nebenthemas in
Lebensstürme gleich wie eine fremde und anziehende Ruhe, Stille und Schönheit, um sich dann mit
der hypnotisierenden Wiederholung der Bass-Figur als eine Art Unendlichkeit zu zeigen.
Ein bekanntes Beispiel einer solchen brüsken Überleitung und eines solchen „Wie-im-Traum-
Verschwindens“, ist das Nebenthema der „Unvollendeten“. Hier ist jedoch der ganze Aufbau anders
und völlig eigenartig: Das Nebenthema wird nicht vom Hauptgeschehen isoliert, es taucht ja wieder
als Schlussthema auf, und es gibt ein weiteres Thema, welches sich als „isoliert“ oder sogar
„transzendent“ behauptet, das Einleitungsthema, dieses erscheint aber wie ein Felsen im Zentrum
des Satzes wieder.
Ein Stück, das mir besonders mit dem Erlkönig verwandt zu sein scheint, ist das Impromptu f-moll
D.935. Dieses Stück ist in einer sehr durchsichtigen Form geschrieben, die aber ein einmaliges Beispiel
eines Kontrapunktes von drei Formen darstellt (Rondo, Drei- teilige Form und
Sonatenhauptsatzform). Die as-Moll-Episode wird erst als Mittelteil des Stücks wahrgenommen
und erscheint wie ein Traum oder eine Offenbarung. Ein Dialog findet statt und wenn es am Anfang
noch gemessen klingt, wird die Spannung zwischen den Sprechenden immer größer; die obere
Stimme wird immer flehender, kommt immer zum Ton es zurück, die untere hingegen wird immer
härter, sodass am Ende nur noch ein Ton der Melodie übrig bleibt: das nach „nein!“ klingende e.
Und wenn diese ganze Episode später noch einmal nach f-Moll zurückkehrt – was dem Ganzen eine
Dimension der Sonatenform gibt –, ist dies absolut unvorhersehbar, unbegründet, fremd – das
höhere Register spielt auch eine Rolle –, wirkt es nun wie ein Geistergespräch; es scheint, als würde
die untere Stimme die obere um Vergebung bitten...
Das von Schubert bevorzugte, einfache und unwiderstehlich starke Ausdrucksmittel – in einem
Moll-Werk eine Strophe in Dur laufen zu lassen (was er nicht nur in seinen Liedern häufig
verwendet) – hat auch mit der „erlköniglichen“ Semantik einer befreienden, anlockenden und
gleichzeitig fremden und gnadenlosen Vision zu tun; manchmal kann es auch den Eindruck
vermitteln, das Sich-Aufgeben könne Erleuchtung bringen...
Ebenso gehören einige Dur-Werke zu diesem semantischen Feld. Und auch hier bewahren Dur und
Moll ihre Semantik: wenn eine Moll-Episode mitten in einem Satz auftaucht, wie z.B. im 2. und 3.
Satz des Quintettes C-Dur, kann sie wie eine tragische Wirklichkeit gegenüber den visionären
Hauptteilen dastehen. So kann auch ein ganzer Zyklus aufgebaut sein: ein Satz in Moll, der
Zentrum und „Realität“ eines Dur-Zyklus ist wie in der Großen Klaviersonate A-Dur oder im GDur
Quartett.
... Es gibt allerdings Werke, die zwar auch deutlich mit der Semantik des Todes zu tun haben, aber
fast ohne Erlkönig-Obertöne. So klingt der Trauermarsch aus der Großen C-Dur Sinfonie heroisch;
ein wichtiges heroisches Element gibt es auch im 2. Satz der B-Dur Klaviersonate, die, wie ich
glaube, mehr als jedes andere Beispiel eine erstaunliche Auseinandersetzung mit dem Tod ist,
sodass für Metaphern und Phantastik kein Platz bleibt...
Und trotzdem bleibt die allgemeine schubertsche Frage über den Tod mit dem Erlkönig untrennbar
verwandt:
Bringt der Tod Reinheit, Ruhe, Versöhnung, Versprechen eines neuen Anfangs –,
oder
wird er uns täuschen?