Boris Yoffe English Deutsch Русский
OTOD

Höflichkeit ist paradox. Wieviel Ehrlichkeit verträgt sie, und wieviel Respekt kann sie ausdrücken?
In den meisten Fällen sind diese beiden Momente unvereinbar: Respekt schließt Betrug,
Falschheit aus, sodass du, wenn du dich aus Höflichkeit für einverstanden erklärst oder aus
Höflichkeit schweigst, eher aus Verachtung als aus Respekt heraus handelst.
Höflichkeit kann eine Taktik sein, ein Mittel, die eigene Autonomie zu bewahren, Distanz zu halten -
bei aller scheinbaren Friedlichkeit ist aber eine solche Haltung nicht ungefährlich, sie weckt
Misstrauen und schließlich auch Feindseligkeit und Hass. Allerdings führt der Versuch, sich offen
und ehrlich gegenüber dem Anderen zu artikulieren, zum gleichen Ergebnis. So gibt man die
Hoffnung auf, eine ideale Haltung zu finden, und bleibt bei einer solchen, die weniger
Zugeständnisse an einen selbst erfordert. Die Paradoxie wird dabei keineswegs aufgehoben:
bleibst du im Frieden mit dir selbst und bewahrst deine Würde trotz erhöhten Risikos dein Visavis
zu verärgern, tust du ihm doch dabei einen Gefallen, indem du zu einem Vorbild - in einer
Grenzsituation, nämlich bei physischer Gewalt, zu einem Symbol - an Aufrichtigkeit,
Selbstbestimmung, Freiheit wirst.
…Das besondere Prachtstück, das die großen Wohnhäuser im Paris der Epoche des blühenden
Kolonialismus ziert, wie die am Boulevard Raspail, ist ein Aufzug. Die graziöse und zugleich
sperrige Konstruktion aus Eisen und Holz, mit dem obligaten Spiegel, eng von der Spirale des
Treppenhauses mit seinen breiten, bequemen Treppen umrahmt, ist eine Art Zeichen der
Industrialisierung, die noch durch die alternde Luxus-Ästhetik verhindert wird, und die Fahrt darin
hat etwas Zirkushaftes: ein Sieg über die Gravitation, ein Vorbote der Öffnung ins Weltall.
Als ich mich zum ersten Mal in so einen altehrwürdigen, polierten und schimmernden Lift in Paris
hineingezwängt habe, hatte ich das Gefühl, dass in diesem Moment ein bestimmter Zyklus zu
Ende ging, eine Geschichte, die in früher Kindheit begonnen hatte.
Ein ähnlicher Aufzug, sogar etwas geräumiger, gab es in dem Haus auf der Petrograder Seite, wo
meine Großmutter und Urgroßmutter lebten. Ich weiss noch, wie man mir die Mahagoni-
Verkleidung zeigte, auf Russisch - das rote Holz, was mich eben kaum beeindruckt hat, denn in
der Sowjetunion war alles „rot“: Roter Oktober, Roter Bäcker… Der Kontrast aber zwischen
Ausgesuchtem, Geschmackvollem und Wohl-überlegtem einerseits und den Attributen der
siegreichen Barbarei und Verwüstung andererseits war erstaunlich: von dem Spiegel war nur der
Rahmen übrig, die inneren, hölzernen Türen waren zerbrochen, auf den Wänden stand etwas
Obszönes geschrieben und auf dem Boden war eine Urinpfütze (jedoch musste man den Aufzug
nehmen trotz dieser Pfütze, die nie trocken wurde, und trotz der hohen Wahrscheinlichkeit,
zwischen den Stockwerken stecken zu bleiben, denn auf der dunklen Treppe lief man Gefahr nicht
nur in eine weitere, noch schlimmere Pfütze zu treten, sondern auch in einen betrunkenen
Leningrader). Diesen Kontrast habe ich jedoch als etwas Selbstverständliches wahrgenommen, als
eine natürliche Synthese von Altem und Neuem, Schönem und Hässlichem, Märchenhaftem und
Albtraumhaftem. Und wie wichtig diese Synthese für mich war, die sich so sehr von den
Betonblöcken, wo meine Eltern wohnten, unterschied, habe ich erst viele Jahre später begriffen:
wenn ich von einem Zuhause träume, dann nur, ausnahmslos, von diesem Zimmer auf der Mira-
(Friedens-)—Straße.
Das geräumige Zimmer in der Kommunalwohnung war Neidgegenstand aller Nachbarn: es befand
sich am Nächsten zur Eingangstür, schaute mit seinen Fenstern nicht zum trostlosen Hof, sondern
zur Straße, und war geschickt in drei Teile geteilt - eine Pappwand, die knapp bis unter die Decke
reichte, verwandelte das Zimmer in zwei Schlafzimmer und einen Salon - eine Schöpfung meines
Urgroßvaters, der noch vor der Revolution Ingenieurwesen in Berlin studiert hatte. Der Weg in die
Küche und zur Toilette war dafür am längsten, was mir aber immer ein Vorteil zu sein schien, denn
aus der Küche kam nur Geschimpfe und Gestank, und in der Toilette konnte man auf eine Ratte
stoßen. Zum Glück musste ich als Kind das Zimmer nicht verlassen: man verwendete einen
Nachttopf, und das Waschen fand in einer Waschschüssel statt. Allerdings schien das Badezimmer
für alle Bewohner ein Tabu zu sein, vielleicht aus Aberglaube, vielleicht aber aus Ekel: es hatte dort
einmal - noch vor meiner Geburt - jemand gelebt, vor dem alle Angst hatten. Überhaupt schien der
Flur umso schrecklicher zu werden, je näher man sich zur Küche befand; in dem Zimmer, das
unserem am nächsten war, wohnte ein unauffälliges Paar, das vor vielen Jahren aus einem Dorf
nach Leningrad gekommen war, dahinter kamen Bewohner, die entweder Verzweiflung oder Hass
ausstrahlten. Zwei Türen weckten in mir eine mysteriöse Angst. Eine führte in die Abstellkammer,
von der unklar war, ob dort tatsächlich jemand wohnte, oder ob die groben Schimpfwörter und die
Alkoholfahne von selbst in der Luft entstanden. Die andere Tür ist in meiner Erinnerung als
Eingang zu einem von Dunst umwölkten Nichts geblieben, wenngleich die mit ihr verbundene
Geschichte ich viel später erfahren habe: hinter ihr war eine depressive Frau in ihrem Bett
gelegen, Jahre lang, bis sie sich selbst erdrosselte (sie hatte die aus Leintuch gemachte Schlinge
mit den Füssen zugezogen).
Bei alldem sind mir die Übernachtungen bei Großmutter als ein Fest in Erinnerung geblieben. Oft
fanden sie auch an den Feiertagen statt, und dann wurde das Feuerwerk angeschaut, was man -
und das galt als ein besonderes Glück - direkt aus dem Fenster von Großmutters Zimmerhälfte tun
konnte (und die Spitze der Peter-und-Paul-Kathedrale versuchte immer noch, wie zu Mandelstams
Zeiten, den Himmel zu stechen). Wahrscheinlich hätte man das Feuerwerk noch besser aus
Urgroßmutters Fenster sehen können, da ihre Zimmerhälfte durch einen Erker veredelt war, aber
sie hatte dem Feuerwerk nie zugeschaut und auch niemanden dazu eingeladen. Ich kann mich
nicht erinnern, dass Großmutter und Urgroßmutter sich je darüber gestritten haben; vermutlich
wurde diese Frage schon vor meiner Zeit geklärt.
Die Verwandten hielten meine Urgroßmutter für eine sture, egoistische und begrenzte Person. Ich
habe sie aber immer als aufmerksam, freundlich und geduldig erlebt. Dass sie tatsächlich keinen
Wert auf die Meinung der Nächsten gelegt hat, wurde aus einem Fall offensichtlich. Die
Urgroßmutter war in einer reichen Familie aufgewachsen, hatte das klassische Gymnasium
absolviert und, nach einer sehr langen Europareise, einen Freund und Geschäftspartner ihres
Vaters (der Rechtsanwalt mit Diplom der Kazaner Universität war) geheiratet. Der Urgroßvater war
also fast zwanzig Jahre älter als sie gewesen und hatte sich um sie sein ganzes Leben lang
gekümmert, in guten und in schlechten Zeiten, sodass sie nirgendwo hatte dienen müssen, und
wenn sie etwas Geld selbst verdient hatte, dann nur mit privaten Französisch-Stunden. Ihre
bourgeoisen Angewohnheiten und ihre klassische Damen-Erziehung wurden immer wieder
Gegenstand des Spotts, wenn nicht von Vorwürfen seitens Großmutters - darunter ihr Können, das
Pianoforte (allein das Wort klang schon anachronistisch und deswegen nicht-überzeugend) zu
spielen.
Bestimmt kann sie ein paar Kinderlieder, war Großmutters Meinung, denn es hatte nie eine
Gelegenheit gegeben, zu prüfen, ob es stimmte - bis meine Eltern für mich ein Klavier namens
Desna mieteten. Urgroßmutter, die gerade bei uns im Metallistow-Prospekt zu Besuch war, bot an,
mich zu begleiten - ich weiss nicht mehr, ob es eine Sonate von Tartini war oder die Romanze von
Beethoven. Während die Familienmitglieder ungläubig lächelten, stellte sie die Noten auf das
Pupitre und spielte mit mir das ganze Stück durch. Es war das erste und letzte Mal, denn ihr
Zimmer zu verlassen wurde für sie immer beschwerlicher, von den langen Trolleybus-Fahrten ganz
zu schweigen. Die Gepflogenheit allerdings, halbjährlich den Friseur aufzusuchen, bewahrte sie
sich bis zum Ende. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals fern gesehen hat (der Fernseher
stand auf Großmutters Territorium); in der Regel saß sie in ihrem mit einem Wolfsfell bedeckten
Strohsessel und las entweder Zeitung oder hörte Radio. Von ihrem Platz am Kachelofen (man
hatte erst einige Jahre vor meiner Geburt aufgehört ihn zu benutzen, als die Zentralheizung
installiert wurde, und mein Vater erzählte gern, wie er früher mit Großmutter zusammen Holz
gehackt hat) hörte man sofort, wenn jemand kam: dies war ein weiteres Privileg des Zimmers,
denn die Besucher - freilich nur die Eingeweihten - mussten nicht am Eingang läuten, alle
Bewohner der Wohnung damit in Aufregung versetzend, sondern konnten vom Treppenhaus aus
auf die Wand klopfen.
Allein schon Urgroßmutters schweigsames Sitzen, ihr Blättern in der Zeitung oder erst recht in
einem alten französischen Magazin, ihr pedantisches Blumengießen (all die Pflanzen, die ihr
einmal ihre Französisch-Schüler geschenkt hatten, verwandelten ihren Erker mit der Zeit in eine
Filiale der Tropen) nervten und verärgerten die Großmutter.
Die beiden hatten wenig gemein: nachdem Urgrossmutter ihren Mann aus dem NKWD-Gefängnis
frei gekauft hatte (während der NEP-Zeit hatte er eine Fabrik aufgemacht, die von ihm konstruierte
Feuerlöscher produzierte, und hatte schnell wieder den mit der Revolution verlorenen Wohlstand
erreicht), wurden ihnen die fünf sowjetischen Großstädte verboten, und so musste Großmutter
selbständig werden. Sie absolvierte eine Fachschule in Moskau und dann das Leningrader
Polytechnikum, und empfang für ihr Leben den charakteristischen sowjetisch-humanistischen
Geist, der uns so in den bestechend enthusiastischen Liedern von Dunajewski und
Schostakowitsch berührt. Sie befand sich die ganze Zeit in Bewegung: zu Hause am Rotieren
zwischen Zimmer und Küche, mit Unterbrechungen am Telefon (es gab selbstverständlich nur
eines für die ganze Wohnung, und die Nachbarn erschienen dann im Flur öfter als sonst, ihr
missbilligende Blicke zuwerfend), draußen zwischen der Fabrik, wo sie arbeitete, der Wohnung
meiner Eltern und zahlreichen Bekannten und Verwandten, von denen manche tatsächlich auf ihre
Hilfe angewiesen waren. Mein Großvater, Mutters Vater, war im Krieg gefallen (seine Briefe von
der Leningrader Front sind erhalten geblieben), sodass Mutter ihn nur nach den Fotos her kannte,
und Großmutter ist ihm ihr ganzes Leben treu geblieben; als ihre ununterbrochene Bewegung
unterbrochen wurde, verlor sie gleichsam ihr Gleichgewicht und schritt in eine andere Realität
hinüber. Als Kind habe ich die meiste Zeit mit ihr verbracht, sie las mir vor, drehte die magische
Laterne, brachte später auch Bücher, Schallplatten, organisierte Opern- und Ballett-Ausflüge -
wobei ich, bei meiner ganzer Bindung an sie, mich meistens ihrer Kulturpolitik widersetzte, in der
Oper gähnte, im Ballett auf die Pause wartete, und Remarque und Feuchtwanger sind bis jetzt
ungelesen geblieben. Während ihrer ritualisierten Streitereien mit Urgroßmutter - und sie konnten
zu jeder Gelegenheit ausbrechen, etwa, wenn Urgroßmutter mir zurückhaltend beim Essen sagte:
während der Mahlzeit höre ich keinem zu, platzte Großmutter heraus: was redest Du, Mama! Man
sagt: „beim Essen bin ich taub und stumm!“ - nahm ich umso entschiedener Partei für die
schweigende Urgroßmutter, je lauter Großmutter wurde. Über der alten, mit Haarnadeln
befestigten Anrichte (aus Mahagoni, wie die Türe im Lift) hing das Porträt der Großmutter als
Mädchen, geschaffen in den fetten NEP-Zeiten durch den Künstler Kasmin. Die Züge waren die
wohl bekannten, vertrauten - der dicke schwarze Zopf, den sie bis zuletzt getragen hat, die
molligen Lippen à la Petite Nègre - aber das kapriziöse, verwöhnte, leicht beleidigte Kind mit der
stets beweglichen, lebhaften, schlanken Großmutter zu identifizieren, vermochte ich nicht.
Von den Nachbarn wurde Grossmutter geduldet, Urgrossmutter haben sie gehasst, wenngleich
keiner sie je direkt beleidigt hat. Urgrossmutter hatte keine Freundinnen, und auch zu den
Verwandten pflegte sie keine Beziehung, obwohl Großmutter zu allen Verwandten Kontakt hatte
und regelmäßig ihrer Tante auf dem Moskauer Prospekt Lebensmittel brachte. Fühlte
Urgroßmutter sich einsam, schwebte sie eher in der Vergangenheit? Sie hat sich nie beklagt und
auch nie von den alten Zeiten geredet, und ihr gesamtes Auftreten, ihre Manieren und ihr
Wortschatz verkörperten einen etwas fremden, nicht gegenwärtigen Kanon. Es ist schwer zu
sagen, ob sie es bewusst so kultiviert hat, auf jeden Fall aber hat sie nie ihre Angewohnheiten
aufgegeben, egal, wie oft man sie ihr bemängelte, sagte immer Moza´rt und Heine (statt russisch
Geyne) und erzählte mir immer wieder Geschichten vom Struwwelpeter (Stepa-Rastrepa im
russischen Äquivalent), die Großmutter für verderbend und somit verboten hielt. Ich weiss nicht,
welche Demütigungen sie in der Zeit erleiden musste, als sie ihren Mann vom NKWD frei kaufte,
mit welcher Angst sie in das ihr verbotene Leningrad zurückgekehrt war, wie sie mit der Armut
zurecht kam (Jahrzehnte lang trug sie dasselbe, Mantel, Handtasche, Schuhe, Barett), ich nahm
sie als einen Menschen wahr, der Menschenwürde besitzt und die Anderen durch seiner
Eitellosigkeit erhöht. Ich habe von ihr auch nie Kritik über Andere gehört; sie ließ sie so sein, wie
sie sein wollten - und immer wieder wollten sie sich aus netten und freundlichen zivilisierten Wesen
in einander fressende sadistische Monster verwandeln… und doch konnten sie auch die
unerwartete Fähigkeit zu Großzügigkeit, Aufrichtigkeit, Opferbereitschaft - und Kreativität - zeigen.
Beneidenswerte Einstellung! Das sowjetische Erziehungssystem war genau am Gegenteil
orientiert. Statt beizubringen, die Dinge zu sehen und mit eigenem Urteilsvermögen zu
interpretieren, versuchte man, dir eine bestimmte Brille aufzuzwingen mit einer eingebauten
Interpretation der Welt und deiner selbst - angepasst an den primitiven Positivismus im Geiste
Engels’ und an ein Gespür für die irrationale Trennung zwischen „Unserem“ und „Fremdem“.
Offensichtlich funktionieren auch andere Kulturen so, der Unterschied besteht nur im Grad der
Grobheit und Absurdität des aufzuzwingenden Weltbildes: je grober und absurder es ist, je mehr
es deiner Erfahrung widerspricht, desto grausamer wird es dir aufgezwungen.
…Und ein desto grösseres Misstrauen und Wiederwillen erweckt sie. Die Menge der Axiome, die
die Welt erklären, wird schließlich zu einer Zauberformel-Sammlung… sodass die Regel „man darf
nicht durch Null teilen“ mir eine angenehme Ausnahme zu sein schien (mit einem magischen
Beigeschmack): dies darf nicht nur der Mathematik-Lehrer nicht, sondern gar der Generalsekretär
der KPSS und - wer weiß! - selbst Lenin nicht. Die gültigen, wahren Regeln waren jedoch
letztendlich - die Benimm-Regel, die Höflichkeitsregel, die eine Verstellung und Heuchelei
bedeuteten und die man zu begrenzen und zu relativieren lernen musste, um seine Distanz, sein
Gesicht, seine Würde zu bewahren. Nach und nach, mit zahlreichen Fehlschritten, nachdem ich es
gelernt hatte, in der Schule dem offiziellen Blödsinn nicht zu widersprechen, musste ich es auch in
der professionellen Gemeinde lernen: mit einem ungebildeten und unsensiblen Musiker zu
diskutieren macht keinen Sinn, denn keine Diskussion wird ihn gebildeter und sensibler machen,
und der ehrliche Rat, doch einige Jahre in Harmonie- bzw. Formenlehre zu investieren, wird als
Frechheit aufgenommen.
Dafür kann man meine beiden Armee-Jahre als gelungen ansehen. Meine mühsame asketische
Arbeit am Aufbau einer inneren Freiheit rief, so schien es, nicht nur Ärger und Hass hervor,
sondern auch ein gewisses Interesse oder sogar Respekt, und noch dazu hatte ich ein reines
Gewissen, denn ich vermied Verstellung und Heuchelei. Wenn du deine Individualität (ein durch
Negation konstruierter Begriff!) dort bewahrst, wo sie eigentlich verboten ist, ähnelst du dem
berühmten Soldaten, der nicht im Gleichschritt marschiert - und damit die Brücke rettet.
Wenn ich für die anderen Soldaten spielte, fühlte ich, wie die Musik, die nicht in ihr Hier und Jetzt
zu passen vermochte, die Welt, in der sie lebten, zum Schwanken, zum Auflösen brachte - denn
die Welt existierte nur so lange, wie sie an ihre Einheitlichkeit und Kontinuität, ihre Realität
glaubten. Jeder direkte Einbruch in diese Welt aber, die mit ihren Begriffen gemacht wird, gibt ihr
augenblicklich ihre Substanz zurück, wirft dich in ihren Raum hinein; vermeiden kann man dies nur,
wenn man weiter die eigene Sprache spricht, der eigenen Linie folgt ohne der Illusion
nachzugeben, es wäre eine gemeinsame Sprache möglich - wenn man also diese höfliche Distanz
bewahrt, die genau zwischen Respekt und Verweigerung balanciert.
Musik befreit von Eitelkeit und Illusionen: sie relativiert die verbale Sprache und das mit ihr
verbundene Weltbild („Gegenstände“, ihre „Eigenschaften“ und „Wechselwirkungen“) genauso wie
die Vorstellung von einer linearen gleichmäßig teilbaren Zeit - und deswegen ist sie für die
Alltagswelt mit ihrem System von Mythen und Glauben gefährlich. Ein Mensch, der in Musik denkt,
stellt einerseits eine Bedrohung für die etablierte Kultur dar, mit ihren Modellen von Mensch und
Welt, und ist andererseits ein Gegengift für ihre Selbstabsolutisierung. Für diesen Menschen ist es
schwer, eine Beziehung zu einer Kultur-Gemeinde aufzubauen, und es gibt dafür mehrere
Taktiken: vom offenen Widerspruch, einem Vorhaben, die etablierte Kultur mit der eigenen,
alternativen Mythologie zu verändern, bis hin zu einer protestierenden Verweigerung („…auf deine
wahnsinnige Welt ist meine einzige Antwort: Verweigerung..“, wie Marina Zwetajewa es formuliert
hat) oder schweigenden Isolation. Ich hatte Glück mindestens fünf solcher Menschen
kennenzulernen, und jeder einzelne Fall unterschied sich prinzipiell von den anderen, wobei jeder
auch auf seine Art extrem, grenzwertig im Hinblick auf das Überleben in der Gesellschaft war.
Einer, der eine ideale Balance zwischen Innerem und Äußerem gefunden hat, der keine
erniedrigende Kompromisse einging, aber auch einen skandalösen Widerstand gegenüber der
Welt vermieden hat - und ebenso eine qualvolle Isolation - war Adam Stratiewski, moralisch ein
Vorbild für mich wie Urgroßmutter. …Aufrichtig, taktvoll, höflich im wahren Sinne, beherrschte er
die Kunst weder zu viel, noch zu wenig zu tun und zu sagen, dem Anderen soviel zu geben, wie er
braucht (und das Bedürfnis, von ihm zu nehmen, hatten viele), ohne ihm dabei etwas
aufzudrängen, die Kunst nicht zu reden ohne gefragt zu sein, aber beim Reden nie in eine
Verstellung oder diplomatische Heuchelei abzusinken (und sein Gegenüber zu versenken), ohne
Rücksicht auf Erfolg, Gewinn oder Sicherheit. Eine zurückhaltende, geduldige Freundlichkeit („…
meine Weste ist immer bereit, Ihre Tränen zu trocknen…“) verband sich bei ihm mit einer kritischen
Nüchternheit, wobei seine kritische Einstellung, Skepsis vielen Bereichen der Menschen-Welt
gegenüber sich immer mit Bescheidenheit verband. Der Reichtum seines inneren Lebens (auf
Musik gebaut) hat ihm quasi das Bedürfnis genommen, sich auf dem ein oder anderen Gebiet zu
behaupten, und die Denkdisziplin und die Strenge, die er mit sich selbst praktizierte, projizierten
sich auf die Anderen.
Dabei kann man sagen, dass er für das konsequente Befolgen des eigenen ethischen Code hat
teuer bezahlen müssen: eine Ohrfeige, mit der er einmal eine Demütigung beantwortet hat,
zerstörte seinen Alltag, und die Verweigerung, sich mit kompositorischen oder
musikwissenschaftlichen Machwerk zu beschäftigen, mündete in ein kreatives Schweigen.
…Schweigen als Ausdruck der Höflichkeit in ihrer dynamischer Ambivalenz (Gegensätze
versuchen übereinander die Oberhand zu behalten): Verachtung und Respekt, Stolz und Demut.
Warum verzichtet ein Mensch, der ein grenzenloses Wissen besitzt, eine brillante Logik, eine
Vorliebe für Systematisierung und einen eigenen Zugang zu jedem musikalischen Bereich (von der
Geschichte bis zur Akustik) konsequent darauf, wissenschaftliche Texte zu schreiben, und greift
zur Feder nur nach Bedarf (wenn es einen Auftrag gibt) und nur als Essayist? (Ein Aufsatz, den
Adam nach der Bitte seines alten Freundes, einem Kompositionsprofessor, schreiben sollte, wurde
immer länger und nach Jahren noch nicht fertig: das Buch, in dem er erscheinen sollte, war schon
längst veröffentlicht, und schließlich war auch sein Held und Auftraggeber gestorben. In diesem
umfangreichen unvollendeten Essay sind viele lobende Passagen enthalten, keine kritischen, und
trotzdem kommt das Wesentliche der verkrampften akademischen Musikproduktion, die eigentlich
so innig und fantasievoll beschrieben wird, mit schonungsloser Klarheit ans Licht, wenn auch nie
genannt: Totgeburt.) Ich bin sicher, dass der Grund für diese Verweigerung nicht nur die
unzähligen Kompromisse sind, die die Beteiligung an den Ritualen der wissenschaftlichen
Community voraussetzt (Produktion von Diplom- und Doktor-Arbeiten, Teilnahme an Konferenzen,
Publikationen), sondern in erster Linie der Zweifel, die Skepsis, die allein schon durch das
Bestehen einer Musik-Wissenschaft hervorgerufen werden. In der sowjetischen Schule haben wir
gelernt, dass die Priester die Götter - an die sie selbst nicht glaubten - ausgedacht haben, um mit
Gewinn für sich das Volk zu betrügen. Beim Erwachsenwerden musste ich mich nach und nach
der Glaubwürdigkeit dieses Schemas vergewissern. Die Musiker-Interpreten, die einen
Professionalismus-Kult betrieben, interessierten sich meist für alles andere außer Musik, liebten
und kannten sie kaum - Spezialisten, die irgendwann ihre theoretischen Prüfungen abgelegt
haben, alle einem klischeevollen Kanon folgten und weder zum selbständigen Urteil noch zum
freien Schaffen fähig waren. Und Musikwissenschaftler, meistens ehemalige Instrumentalisten,
hängen am Körper der humanitären Wissenschaften, die der positivistische
Wissenschaftsoptimismus ins Leben gerufen hat - als eine Imitation der Experimental-
Wissenschaften, ohne nach dem Sinn oder gar nach der Möglichkeit einer Übertragung ihrer
Methoden auf das Ästhetische zu fragen. Freilich ist es kein Verbrechen, Texte zu vermehren, die
ein wissenschaftliches Wissen über Musik (Kunst, Literatur, Geschichte… die Forschungen über À
la recherche du temps perdu zu studieren - der beste Weg, die Zeit zu verlieren!… man lese lieber
das Original) simulieren, aber ein denkender und gewissenhafter Mensch vermeidet die
Beschäftigung mit Gebilden, die er als leer erkennt. Und - - schweigt höflich (allerdings relativiert
die Tatsache, dass er nicht einmal versucht, zu polemisieren, seine Höflichkeit).
Was soll ein Mensch tun, der Musik liebt? Sie hören, sie spielen, über sie schreiben, sie
komponieren? Man kann ein professioneller Priester sein, aber nicht ein professioneller Gläubiger,
genau wenig wie ein professioneller Verliebter. Und wenn ein in Musik Verliebter noch einen
Kompromiss finden kann, bleibt für einen in Musik Denkenden nur die Wahl: aufschreiben oder
nicht. Dabei ist „für die Schublade zu schreiben“, wie Adam selbst einmal sagte, eine Illusion: wenn
du dir schon die Mühe machst, aufzuschreiben, so stellst du dir offensichtlich auch jemanden vor,
der es irgendwann lesen, spielen, hören wird. Seine eigene Entscheidung, nicht aufzuschreiben,
hat er so begründet: wie Mozart schafft er es nicht, und wenn schlechter - dann wozu? Als Zuhörer
und Musikliebhaber kann ich hier die Höflichkeit als Ausdruck des Respekts sehen: wie oft fühlt
man sich beim Hören eines billigen Machwerks missbraucht, wenn ein Schwindler deine Zeit und
Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt (und es muss nicht unbedingt ein zweitrangiger Konjunktur-
Kenner sein, oft ist es auch einer der Parnass-Bewohner wie Richard Strauß oder Boulez…
allerdings gibt es hier auch Ausnahmen, vor allem ein Genie, dem du seine Frechheit,
Aufdringlichkeit und Dummheit verzeihst: Wagner) und dir etwas zu verkaufen versucht.
Andererseits ist in dem freiwilligen, selbsterwählten Schweigen eines Komponisten auch
Verachtung spürbar: er verweigert dir die Möglichkeit, selbst zu urteilen.
…Imaginäre Improvisationen, mit denen ich mich immer bei Schlaflosigkeit unterhalte, wollte ich
nie aufschreiben. Dafür habe ich viel Musik aufgeschrieben, meistens aus einem inneren Bedürfnis
heraus und mit einem Verantwortungsbewusstsein. Das kleine Detail, das immer gern
angesprochen wird - das Fehlen an dynamischen, agogischen und artikulatorischen
Bezeichnungen - hat weder polemische noch symbolische Bedeutung und ist ausgerechnet ein
Höflichkeitszeichen, eine Folge aus Respekt dem Interpreten gegenüber: ich gehe davon aus,
dass er nicht dümmer oder inkompetenter sein wird als ich, und schreibe nur so viel, wie ich es als
Interpret bräuchte. Alle interpretatorischen Lösungen (und es können viele sein) kann man dem in
den Noten Geschriebenen entnehmen: Harmonik, Textur, melodische Bewegung, Atem der Form.
Auf einem postulierten Respekt dem Zuhörer gegenüber sind andere wesentliche Momente meiner
Musik begründet, und da kann man von Polemik sprechen. Man kann den Vergleich zwischen
einem Gläubigen und einem, der in Musik denkt, hier weiter führen: auch ohne jegliche Neigung
zum Missionieren und bei vollem Verständnis für die Undurchsichtigkeit des Anderen, sieht ein
Gläubiger den Anderen mit eigenen Augen, platziert ihn in das für ihn sichtbare Weltbild und
postuliert somit eine absolute, wenn auch ferne und geheimnisvolle, Verbundenheit und
Gemeinsamkeit. Ohne von dieser auszugehen verletzt er seine Beziehung zum Schöpfer, d. h. er
hört auf an Gott zu glauben. Die einzige akzeptable - und unvermeidbare - Variante ist es, wenn
der Gläubige die Möglichkeit für den Anderen zulässt, sich mit seinem Glauben
auseinanderzusetzen - so weit, wie letzterer es will. Dies ist die Konsum-Erfahrung, die ich am
meisten im Leben schätze und für die ich so dankbar gegenüber den schon längst gegangenen
Menschen bin, an deren Welt ich Teil nehmen darf, ohne dass sie es mir aufzwingen; auch wenn
die Konzepte von Leben, Mensch, Gott, Zeit, Geschichte und Tod, die in den großen Werken der
Vergangenheit materialisiert sind, nicht nur einem durchschnittlichen Bild, sondern ebenso
einander widersprechen.
So kommt es, dass ich, wenn ich wenige Noten auf ein Blatt geschrieben habe, in Polemik trete
sowohl zu Axiomen der Kultur insgesamt (Sprache, Persönlichkeit, Zeit,
Kommunikationsmöglichkeit, Wissen) als auch zu Axiomen des Musikmarktes - als Ganzes
(Professionalität, Spezialisierung) wie auch in beiden seiner Hauptströmungen: die „neue
Musik“ (bei mir wird einerseits die Priorität der Semantik über den Klang postuliert, und
andererseits die Unvermeidbarkeit des tonalen Systems für eine Musik, die von der Vorstellung der
Form ausgeht) wie die „klassische Musik“ (wo die Interpreten seit der Nachkriegsgeneration, mit
seltensten Ausnahmen, die Fähigkeit verlieren, harmonische Beziehungen wahrzunehmen, und in
Folge den komplexen, lebendigen Atem eines Musikwerks - die Synthese von Harmonik, Metrum,
Textur, Melodik und formalen Strukturen - durch Ticken des Alltag-Chronometers ersetzen).
Aus einem metaphysischen Blickwinkel heraus sind diese Blätter auch eine Polemik …zu Platon.
So wie sich keine G-Moll-Symphonie Mozarts in einem Ideenhimmel befindet, sondern nur in den
Köpfen der Zuhörenden (an sie-Denkenden, von ihr Träumenden, sie Lesenden), ohne
Möglichkeit, sie von den Eigenschaften der sie hier und jetzt realisierenden Wahrnehmung zu
bereinigen, so zeigt sich eine unerreichbare - als Absolutes nicht existierende - statische Idee,
Invariante, hinter einem einzelnen Quartettstück, das von vielen möglichen Interpretationen
ausgeht, wie hinter der gesamten Menge, die das Quartettbuch beinhaltet (und die Elemente hier
können nicht durch eine äußere Markierung - Titel, Nummer - unterschieden werden, d. h., um ein
Stück zu identifizieren, muss man es spielen). Eine Ikone ist eine Nicht-Ikone: nicht als Bruchstück,
Splitter des Ideenhimmels, sondern als eine Rückgabe dem Himmel seiner Gestaltlosigkeit. Und
diese Rückgabe - als Prozess.
Offensichtlich kann man auf diesem Fundament ein System aufbauen, das sich an der
unmittelbaren künstlerischen Erfahrung orientiert - von der Metaphysik bis zur Ethik und Politik
(Manarchismus?); Erklärungen zu vermeiden ist an sich auch schon polemisch (die gleiche
Situation wie bei der À la recherche du temps perdu).
Dabei bleibe ich im Rahmen der Höflichkeit: dränge nicht auf, deklariere nicht, biete nicht an,
sondern lasse lediglich - schweigend - die Möglichkeit. Eine Höflichkeit, die, wenn es keinen
bitteren Beigeschmack hätte, Gleichgültigkeit heißen könnte.
Das erste Stück, in dem ich die Höflichkeitsgrenzen verletzt habe, war Muse der Demut. Ein
hervorragender Pianist hatte mich gebeten, ein Stück zur Ergänzung eines Debussy-Programms
zu schreiben, und aus meiner Verehrung des Pianisten heraus konnte ich mich nicht verstellen:
das Klavierstück ist gegenüber Debussy polemisch geworden (sodass es auch nicht in dieses
Programm aufgenommen wurde und Platz neben Beethoven und Schumann fand). Der Titel
bezieht sich einerseits auf meine Taktik des Schweigens und Abweichens, andererseits macht er
mit ihr Schluss, denn das Proklamieren der Demut ist ja ihr Ende. In der Musik selbst gibt es
nichts, was man als eine Allegorie der Demut sehen könnte, sie entblösst, verschärft fast aggressiv
die Problematik, die in den Quartetten in einer maximal zurückhaltenden Form gegeben wird:
Etwas und Nichts, Rationales und Irrationales, Ernstes und Unernstes (Magisches und
Spielerisches), Zorniges und Versöhnendes, Geformtes und Formloses.
Demut ist Frechheit, Anmaßung. Dies hat mir Juri Chanon gezeigt, der dritte und letzte unter
meinen Höflichkeitslehrern. Muse der Demut wurde gleichsam der Vorbote unserer Bekanntschaft;
allerdings hatte ich seine kühne und unschlagbar witzige Musik schon Ende der 1980-er Jahre
kennengelernt und nie vergessen. Bereits damals wirkte sie auf mich ermunternd, befreiend, denn
sie zeigte, dass man gegenüber Verlogenheit, aggressiver Dummheit, selbstgefälligem Geschwätz
und frecher Inkompetenz nicht nur schweigen und sich abgrenzen, sondern ihnen auch ehrlich und
schonungslos antworten kann. Ich bin nicht diesen Weg gegangen, habe ihm gegenüber aber
immer Dankbarkeit und Solidarität empfunden. Die Persönlichkeit Chanons hat mir dann die Augen
geöffnet für die Heldenhaftigkeit und Tragik der Rolle des Narren, eines, der von Natur aus unfähig
ist, sich vor Macht und Gewalt zurückzuziehen, sich anzupassen, eines, der die Gesetze der Kultur
nicht ernst nehmen kann und somit ihr Wesen als eine zerbrechliche Konstruktion entblößt, die ihr
Gleichgewicht bewahrt, solange jeder ihrer Träger seinen Anteil an Unehrlichkeit, Aggressivität,
Dummheit, Oberflächlichkeit, Leichtgläubigkeit, Geiz, Angst und Unanständigkeit beiträgt.
Chanon verschrieb sich letztendlich auch dem Schweigen, wenngleich sein Schweigen eine aktive,
explosive Aktion ist: er schreibt, um dann das Geschriebene zu vernichten. Die Kraft dieser
kompromisslosen Aktion liegt in ihrer Verborgenheit: geriete das Verbrennen der Partituren zu
einem Happening, würde es sofort zum Sieg des Alltäglichen, diesen komplexen Geflechts aus
Fäden, die die Köpfe der Kulturträger miteinander verbinden.
Chanons kritische Beziehung zur Gesellschaft, seine kühnen Streiche, die immer als gewissenlose
Verstöße gegen die Ordnung wahrgenommen wurden, sind eine von Widersprüchlichkeit
bereinigte Höflichkeit, sind Respekt und Vertrauen gegenüber den Menschen. Neben ihm muss ich
meine eigene Vertrauenslosigkeit, mein mangelndes Zugehörigkeitsgefühl, Pflichtgefühl zugeben.
Den Garten, den ich geschaffen habe, werde ich schweigend weiter bestellen - auch wenn ihr - der
Menschen - Vorbeigehen bitter ist. Allerdings glaube ich weder an die Möglichkeit noch an die
Nützlichkeit eines konsequenten Handelns. So kann man doch meine Opern als eine Aussage
sehen, als Streich und Herausforderung (jenseits des Schweigens), ein Verstoß gegen die
Höflichkeit um der Höflichkeit willen. Diese Gattung geht ja von einer öffentlichen Aussage aus; als
erstes zum Thema Unhöflichkeit würde ich jedoch die Chor-Miniature Otod nennen, deren
Widmung an Juri Chanon eigentlich keiner Erklärungen bedarf: ohne Juri hätte ich das nicht
gewagt, was ich als Verletzung der Grenze empfinde - beim Titel angefangen bis zum Bruch im
Text am Ende des Liedes. Nicht alles lässt sich aber eindeutig interpretieren in dem Stück: wo ist
Demut, wo ist Höflichkeit und wo ihr Gegenteil. Soll bereits die Wortschöpfung, die den Titel zu
einem Zeichen für eine leere, kultur-bedingte Vorstellung vom Tod macht, zusätzlich als eine
Verbeugung in Richtung des letzten Philosophen wahrgenommen werden? Der närrische Titel
bildet auf jeden Fall einen Kontrast zum scheinbaren Ernst des Todes-Themas wie auch zur Musik,
in der barocke Exaltiertheit mit ironischer Zurückhaltung ergänzt wird. Ein Verstoß gegen die
Höflichkeit ist allerdings schon die Rede über den Tod, einem unverständlichen, unappetitlichen
Gegenstand; ihn zu erwähnen ist fast das gleiche, wie über… nicht Sex, sondern über Geld zu
sprechen, das zu lieben, dessen Macht anzuerkennen gleichsam stillschweigend vorausgesetzt
wird wie eine von allen geteilte Sünde.
Allerdings bezieht sich dieses Chorstück nicht tiefer auf mein Tod-Verständnis als jedes meiner
Quartettstücke, wie auch auf den Tod, so wie er sich in der Musik von Bach, Schubert, Bruckner,
Mozart, Okeghem, Palestrina oder gar Berlioz manifestiert. Aber es ist der Versuch, unhöflich das
positivistische Todes-Mythos anzugreifen, deswegen stimmt der Text mit dem Text eines der
Ernsten Gesängen Brahms` überein. Der biblische Text an sich bietet zwar auch eine gute
Gelegenheit zum Spott, lässt aber doch zu viele Interpretationen zu (man denke nur an die
mittelalterliche Mode für die Triumphe-des-Todes-Komik, die den Tod als einen Vollstrecker der
totalen Gleichheit à la Scharikow aus Bulgakows Hundeherz darstellt). Dafür scheint mir der
Brahmssche Klang (freilich nicht nur in den Ernsten Gesängen), der vor Wichtigkeit und
Tiefsinnigkeit strotzt und den Vorgeschmack einer posthumen Auszeichung mit Denkmal gibt, eine
direkte Verkörperung der bürgerlichen Todes-Mythen zu sein, die einen mit ihrer Feigheit und
Dummheit betäuben. …Wenn auch nicht bei jedem Künstler dieser Epoche der Tod als ein
offizielles Ereignis mit leicht unanständigem Gebaren (zuweilen bis hin zu orgastischen Spasmen)
erscheint: man denke an die Klaviersonate Janaceks, in der der Tod - und dies in einem
unterstrichen politischen Kontext - den individuell-metaphysischen Rahmen, mit dem
Beigeschmack von Mussorgskis Urfurcht, nicht verlässt. …und aber auch an Mandelstam erinnert:
„…noch saugt das Kind die Beleidigung von der Untertasse…“ (was für eine Konkretisierung der
frühen, verschwommenen Zeile „…bin ich wirklich echt, und wahrlich kommt der Tod?“).
Der Tod in Venedig, bei all seiner kleingeistigen Bürgerlichkeit, ist auch eine Ausnahme, wenn
eben auch unfreiwillig: das Besondere beginnt und endet mit der Erwähnung Veneziens, und der
nächste Schritt wird scheinbar noch nicht gemacht: der Schritt zur Philosophie des Seins-in-
Venedig, in diesem neuerworbenen Paradies, dem Altar der Befreiung der europäischen Kultur von
sich selbst.