Boris Yoffe English Deutsch Русский
Wiederholungstechnik und Formenkontrapunkt

Eine der Hauptkategorien, mit denen man sich in der Musik auseinandersetzt, ist die der Änderung
(mit ihrer dazugehörigen Problematik, vor allem der der Selbstgleichheit).
Eine informative Einheit (ein Motiv, ein Thema, ein ganzer Form- abschnitt) kann auf
verschiedenste Weise verändert werden, von einer Null-Veränderung – einer bloßen Wiederholung –
bis zur vollen Unerkennbarkeit.
Man sollte jedoch daraus nicht schließen, dass je größer die Veränderung, desto interessanter auch
die Musik wird –, was und wie etwas sich während des Stücks ändert, wird von der Ästhetik
bestimmt und ist dem Ausdruck untergeordnet.
Die unveränderte Wiederholung steht allerdings nicht im Mittelpunkt der Musik der Klassik und
Romantik: die musikalische Ästhetik des 19. Jahrhunderts dreht sich eher um das Werden und die
Entwicklung (was zur Entstehung der Sonatenhauptsatzform geführt hat oder z. B. auch zu dem
Wagnerschen Leitmotiv-System). Eine Art die-Regel- bestätigende-Ausnahme könnte man in
einigen Sonatensätzen Mozarts sehen, die als komplexe A–B–A-Form geschrieben sind. Dort kann
der A-Teil bei der Reprise völlig unverändert bleiben, und trotzdem wird er nach dem
kontrastierenden B-Teil anders wahrgenommen als bei der Exposition (man muss nur einen solchen
Mittelteil komponieren können...) –, die Noten haben sich nicht verändert, aber der Zuhörer sehr
wohl! Oft folgt dann noch eine kurze summierende Coda, was den Unterschied zu einer
gewöhnlichen da capo-Form unterstreicht. (In einer barocken Aria-da-capo-Form z.B. ist der Effekt
umgekehrt, es kommt also dort eher auf das Wiedererkennen an).
Verallgemeinernd könnte man vielleicht sagen, dass der semantische Reichtum bei der Arbeit mit
unveränderten Wiederholungen darauf basiert, dass das wiederholte Element in einer neuen
Position, einem neuen Kontext, seine neuen Seiten offenbart.
Bei Schubert finden wir mehrere erstaunliche Beispiele für eine solche Technik; möglicherweise ist
sie mit der Lied-Ästhetik verbunden (der Beziehung zwischen Text und Musik, d.h. mit dem neuem
Text zeigt die unveränderte musikalische Strophe ihre neuen Aus- drucksmöglichkeiten). Sogar in
seinen Sonaten trifft man oft diese Technik an, vor allem aber – redet man von der
Instrumentalmusik – in seinen Miniaturen für Klavier.
Als erstes Beispiel möchte ich das Impromptu op. 142 (D.935) Nr. 2 As-Dur nennen, wo das
Hauptmaterial mehr als erwartet wiederholt wird: die ganze Periode des ersten Teils wird wiederholt
anstatt eines einzig erwarteten Schlussakkords in Takt 31, der Auflösung in die Tonika. Man
erwartet, dass die Reprise NACH der Auflösung kommt, da sie aber voll und ganz an der Stelle der
Auflösung, des abschließen- den Taktes erscheint, bekommt das Thema ein ganz anderes Gewicht,
oder besser gesagt, es verliert jedes Gewicht, erscheint als ein Hauch, ein gewichtloser Schatten.
Hinzukommt, dass die Schlusskadenz schon in der Mitte dieses Abschnitts (Wiederholung des
Ganzen am Ende) zu hören ist, so wirkt das, was am Anfang der zweite Satz war, hier als eine
zusätzliche Wiederholung.
So ist es sehr oft bei Schubert: durch die Wiederholung in einem neuen Kontext, an unerwarteter
Stelle, bekommt das Material eine völlig neue Bedeutung. In Gute Nacht in der Winterreise (wie
auch in vielen anderen Liedern bei Schubert) dient die Wiederholung dem berühmten Effekt des
traurigen Dur: das Dur erscheint „zu spät“, wenn die dreifache Wiederholung schon eine feste
Trägheit geschaffen hat, und scheint deswegen so „jenseitig“ zu sein.

Die Wiederholung an „unpassender Stelle“ kann auch die schein- bar einfache und übersichtliche
Form sehr komplex machen. Ich spreche oft von der vertikalen Zeit bei Schubert: die Zeit
entwickelt sich nicht „von rechts nach links“, vom Anfang zum Ende, sondern quer zur „normalen
Lebenszeit“ –, wie in einem Traum oder einer Vision, die nur eine Sekunde dauert, aber als sehr
lang erscheinen kann. Sehr oft erreicht Schubert den Effekt des Erwachens mit der Coda, die uns
zurück zum Anfangsmoment bringt: es ist so viel passiert... und wir sind immer noch an der
gleichen Stelle). Der Begriff Coda ist deshalb hier fraglich: es ist vielmehr ein Element der
Rondo-Form, das den ganzen vorherigen Form-Aufbau (meistens ist der Sonatenhauptsatzform) in
Frage stellt.
Ein Musterbeispiel dafür wäre das Französische Divertimento.
Ich denke, man sollte hier von einem Formenkontrapunkt sprechen: zwei oder sogar mehrere
Formen können in dem Stück gleichzeitig wahrgenommen werden. Es ist keine Synthese wie die
Rondo-Sonate, sondern ein Kontrapunkt, eine Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem –, die

Elemente, Eigenschaften einer Form sind innerhalb der anderen so stark, dass eine Art Escher-
Zeichnung entsteht: in zwei Silhouetten kann man entweder die eine oder die völlig andere Gestalt

erkennen.
Ein unerhörtes Beispiel dafür gibt es in dem Impromptu f-Moll, D.935. Je weiter man hört, umso
weniger weiß man, in welchem Raum man sich befindet. Erst erlebt man die Gleichzeitigkeit des
Rondos und der komplexen dreiteiligen Form, dann aber kommen noch die offensichtlichen
Eigenschaften der Sonatenhauptsatzform dazu! (Und am Ende befindet man sich wieder am
Anfang...)
Bei Chopin findet man auch wunderbare Beispiele für den Formenkontrapunkt, z.B. in der vierten
Ballade, Polonaise-Fantasie u.a. In der Polonaise-Fantasie, z. B., erscheint im Schluss-Abschnitt die
Melodie aus dem Mittelteil (dort kam sie in H-Dur – deswegen gibt es auch den H-Dur-Ausbruch
am Ende der Polonaise). Und so entsteht die ungewöhnliche Reprise, die mit Fortissimo herein
stürzt, unvorstellbar kurz, und noch dazu durch die Elemente der Sonatenform schwerer geworden.
Dies wird mit der vorherigen Entwicklung vorbereitet, die „Löcher“ und „Sprünge“ kennt. Vor
allem ist es die gis-Moll-Melodie im Mittelteil, die ganz unvorbereitet „illegitim“ erscheint: dort,
wo man eine Schlusskadenz erwartet, gibt es plötzlich so viel Platz für etwas Neues (das ist wieder
so ein Moment der vertikalen Zeit). Ein ähnlicher Moment ist der Übergang zur Reprise, wo der
Versuch diese Melodie zum zweiten Mal zu bringen regelrecht weggefegt wird.
... Man könnte hier noch weiter über das Ungewöhnliche und Unerwartete der langatmigen Melodie
innerhalb der Polonaise-Fantasie nachdenken. Da wird der Unterschied des Formenkontrapunkts bei
Schubert und Chopin sichtbar: Chopin kann sich für den Moment der vertikalen Zeit zuwenden,
bleibt aber grundsätzlich im „chronologischen Geschehensfluss“. Allein schon das Hauptthema der
Polonaise: welche Dichte der Entwicklung von einem Takt zum anderen! Dieses Thema ist keine
gewordene Einheit, kein Antlitz, sondern selbst – ein Werden. Das Gesicht eines Werdens.