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Verarschung als künstlerische Strategie

Verarschung als künstlerische Strategie

(Vortrag für die Schostakowitsch-Gesellschaft)

Boris Yoffe
 
 I. Ethik vs Ästhetik
 
Meine Damen und Herren!
 Als ich zum letzten Mal hier auftreten durfte, habe ich über Schostakowitschs Paradoxien gesprochen. Eine der Antinomien war ethischer Natur: ein Humanist - ein Misanthrop. 
In den vergangenen zwei Jahren scheint die Beziehung von Ethischem und Ästhetischen unglaublich an Aktualität gewonnen zu haben.
Ich werde heute folgende zwei Themen umkreisen: soll die Kunst sich einem kulturellen Mythos, einem ideologischen Narrativ unterordnen und vielmehr noch - kann sie das überhaupt, ohne die Ideologie zu diskreditieren, ja verspotten?

Ich hatte Pech mich auch persönlich mit dem ersten Thema (also - SOLL?) vor Kurzem auseinandersetzten zu müssen: ein Vorfall, den ich mit freundlichen Erlaubnis Herrn Feuchtners jetzt schildern darf, zumal er als Ausgangspunkt meines Vortrag dienen kann. 
 Im September 2022 habe ich auf Anfrage der Zeitschrift Musik & Ästhetik einen Text für deren Rubrik „Forum“ geschrieben. Als Thema wurde „Musik, Politik und Krieg“ empfohlen. Die Zeitschrift akzeptierte mein Statement und teilte mir mit, es werde unter dem von einem Redakteur vorgeschlagenen Titel „Zwischen Mythos und Metaphysik“, zusammen mit einer kurzen Biografie, veröffentlicht werden. Ende Oktober jedoch erhielt ich eine E-Mail von einem anderen Mitarbeiter, wo es hieß, der Beitrag sei abgelehnt worden, als dem Thema „Krieg in der Ukraine“ nicht entsprechend.
Mein Statement lautet:
Meines Erachtens handeln Menschen weitgehend irrational; man glaubt an bestimmte Mythen und gestaltet sein Leben als ein System von Ritualen, welche die Glaubwürdigkeit der entsprechenden Mythen untermauern sollen. Dabei spielt das Ästhetische die zentrale Rolle; das Glänzen einer Uniform, die laute Marschmusik und die flammenden patriotischen bzw. den Feind dämonisierenden Reden gehören zum Rituellen, und ich fürchte, dass das Zerstören, Vernichten, das Foltern und Morden auch eine Art sadistischer Rituale sind, die sich mit einer Ideologie bzw. Mythologie ohne Weiteres rechtfertigen lassen.
Ich erlaube mir, hier an die wunderbaren, bewundernswerten Meisterwerke Beethovens und Generationen von Romantikern zu erinnern, die einen ethisch ambivalenten, wenn nicht zu sagen naiven, bis zur Lächerlichkeit reichenden Heroismus-Mythos verkörpern. Auch die Kunst der Moderne wurde weitgehend von den dualistischen Vorstellungen eines Kampfes des Guten mit dem Bösen geprägt.
Das Ethische ist leider grundsätzlich eher sekundär und lässt sich relativieren, je nach Profit, Spaß oder Überlebensstrategie.
Die hohe Kunst, die sich mit den zentralen existenziellen Fragen auseinandersetzt, und zwar auf einer unmittelbaren, intuitiven Ebene - jenseits von Kalender, Reisepass und Bankkonto - wie eine praktische Metaphysik -, kann die Menschheit beeinflussen, ja grundsätzlich verändern, weil sie eben das Ästhetische (u. a. als, bzw. im Kern der Persönlichkeit) unmittelbar behandelt. Aber nur so... Das Schaffen Wagners wäre das nächstliegende Beispiel dafür, wie die radikalen Veränderungen im kulturellen Mythos - und die sind nicht mit Manifesten zu erreichen, sondern nur durch die unmittelbare Kraft der Kunst, des Ästhetischen - die Geschichte lenken: weg vom Christentum zu den esoterischen Strömungen (die übrigens keinen Krieg gescheut haben) und zur sexuellen Revolution.
...Dass ein Künstler sich als Mensch, als Bürger sozial oder unter Umständen auch politisch engagieren kann, ist jedoch selbstverständlich und steht hier gar nicht zur Debatte.
Diese meine Überlegung hat also in eine europäische, von der Meinungsfreiheit geprägte Zeitschrift nicht gepasst. Und ich empfinde es als erschütternd, dass der Gedanke über eine Autonomie des Ästhetischen, über die Unmöglichkeit, es einer Ideologie unterzuordnen - einer scheinbar fortgeschrittenen demokratischen Ideologie inklusive - in Europa im Jahre 2023 nicht veröffentlicht werden durfte. Umso glücklicher bin ich, dass ich dieses Thema hier doch noch ansprechen darf.
Mit „Unfreundlicher Kunst“ meine ich die Situation, in der die Kunst das Realitätsbild seines Publikums in Frage stellt.

II. Auftraggeber der Kunst

Ist das Ästhetische ein integrierter Teil einer bestimmten Wirklichkeits-Vorstellung, die als DIE Realität in der Gesellschaft postuliert wird? Ist die Kunst somit ein Instrument der Etablierung einer religiös oder sozial-politisch geprägten Weltanschauung, und beschränkt sich ihre Aufgabe darauf, das Gute in seinem Kampf mit dem Bösen zu unterstützen? Und wieder - ob sie diese Aufgabe überhaupt bewältigen kann, ohne sich unmerklich in einen Spott über das Heilige, Unantastbare, axiomatisch Postulierte zu verwandeln?
Freilich waren beispielsweise die sowjetischen Ideologen von der untergeordneten, instrumentalen Natur der Kunst  überzeugt, sie glaubten an einen sozialen Auftrag und sprachen der Partei mit ihrem Generalsekretär persönlich das Wissen darüber zu, was Kunst sei, wozu sie da sei und wie sie zu bewerten wäre. Das Verständnis der Kunst als Propaganda-Mittel ist jedoch nicht nur für die Sowjetunion typisch.
Ich erlaube mir die wichtigen Varianten von Institutionen, die über die Kunst bestimmen, hier skizzenhaft aufzuzählen.
a. Kirche bzw. ein ideologischer Monopolist. Das ist die komplexeste und widersprüchlichste Variante, denn die Kirche ist nicht dasselbe, wie Religion bzw. der Glaube. Ein von der Kirche verurteilter Häretiker ist ja auch religiös Inspiriert, und ein tief religiöser Künstler schafft nicht unbedingt kirchenkonforme Werke. Andererseits kann ein Zweifler, ein Atheist oder gar ein Gotteslästerer wunderbare Kirchenkunst schaffen - und die wichtigsten katholischen Mäzene, nämlich die Renaissance-Päpste, waren ja überwiegend selbst ungläubige Frevler. Oder die Macht der Fügung: zufällig war Luther ein sehr musikalischer Mensch, was für ein Glück für die Musikliebhaber aller Konfessionen!
Trotz der Komplexität der Beziehungen von Kirche und Kunst kann man sagen, dass die jüdisch-christliche Mythologie, seit der Renaissance unwiderruflich mit der antiken vermischt, die kirchlichen Rituale und die individuellen religiösen Gefühle unzweifelhaft eine unvergleichliche, unübertroffene Blüte des Ästhetischen ermöglichten.
b. Herrscher als Auftraggeber können selbst Erfinder einer eigenständigen Ästhetik sein und die Künstler für die Verwirklichung ihrer Vorstellungen instrumentalisieren, wie Louis der XIV., oder gewissermassen auch Stalin. Hier konnte der Künstler sich mehr oder weniger mit der vorgeschriebenen Ästhetik identifizieren, sich in dem vorgegebenen Raum entfalten, wie Lully oder Racine, oder diesen Rahmen erweitern, wie Rameau oder Moliere.  
c. Ein bescheidenerer Mäzen oder eine entsprechende Organisation, die ihre Aufgabe auf die Unterstützung eines von ihr verehrten Künstlers beschränkt und ihm auch die Entscheidungen über Aufgabe und Sinn von Kunst überlässt, wie die Wiener Unterstützer Beethovens, die Frau von Meck, oder Ludwig der II.: In dieser Konstellation instrumentalisiert eher ein Künstler, der die Autonomie und den Eigenwert des Ästhetischen überzeugend postuliert, den Auftraggeber.
d. Ein Auftraggeber als Impresario, der sowohl den Künstler als auch das Publikum beeinflusst und für eine Balance zwischen Ästhetischem und Kommerziellen sorgt. Hierbei übernimmt der materielle Wert eines Kunstwerkes die Rolle des ideologischen Diktats. Bestes Beispiel wäre etwa die Zusammenarbeit von Djagilew und Stravinsky.
e. Freier Markt. Der Künstler wählt weitgehend frei zwischen einer erfolglosen Einsamkeit, einer Anerkennung im Kreis von Freunden und Kenner und einem kommerziellen und gesellschaftlichen Erfolg, wobei er keinem ideologischen Diktat unterliegt.
Zunächst - ein freier Geist, der sich gleichzeitig kritisch und entzückt, nüchtern und poetisch, ironisch und offen emotional, sakral und weltlich manifestieren konnte: Haydn, Mozart, Schubert.
Später - Künstler als Schöpfer einer neuen Ideologie, ein Gedankenbeherrscher, ein Prophet, eine Kultfigur. Ein unübertreffliches Beispiel ist Wagner.
Dann auch – der Künstler als Hersteller seines eigenen Produktes, der dabei verschiedene Marktstrategien verfolgt, Schwindel, Fälschung und Selbstvervielfältigung miteingeschlossen.
Ein fließender Übergang liegt hier zwischen Kunst und Unterhaltungsindustrie, wobei die letztere eben keine ästhetische Autonomie beansprucht und eine der wichtigsten Säulen des positivistischen Realitätbild ist, ob demokratisch-kapitalistisch oder sozialistisch geprägt.
Andererseits aber - das Publikum gut zu unterhalten, hat mit einer Relativierung des sozial-politischen Wirklichkeitsbildes zu tun, mit einer scheinbar harmlosen Komik angefangen, bis hin zu einer vernichtenden Satire und einer gnadenlosen Groteske, wie beispielsweise der brave Soldat Schwejk, der die gesamte Rhetorik des Patriotismus und Heroismus sprengte. Ein als nur unterhaltsam konzipiertes Kunstwerk kann hohe ästhetische Erlebnisse schenken (denke man an die Fledermaus unter Carlos Kleiber) und die Wahrnehmung von Generationen prägen, denke man an Charlie Chaplin.

III. „Verarschung“ als künstlerisches Mittel und künstlerische Strategie

In allen oben aufgelisteten Situationen kann es leicht passieren, dass ein Künstler sich einem aufgezwungenen Realitätsbild widersetzt, ob fein-diplomatisch, wie Palestrina, verletzbar-leidenschaftlich, wie Schumann, oder spöttisch-überheblich, wie Picasso, der, laut Überlieferung, auf die ehrfurchtsvolle Frage einer Kunstliebhaberin, was ein bestimmtes Bild symbolisieren soll, antwortete: es symbolisiert 100.000 Dollar.
Denn ein Künstler ist zwangsläufig ein für das ästhetische Erleben besonders sensibler Mensch, der aus eigener Erfahrung weiss, wie mächtig das Ästhetische ist und wie es die Persönlichkeit formt. Und es geht ihm darum, mit Menschen auf einer tiefen, intuitiven Ebene zu kommunizieren, aber oft auch bewusst darum, das Publikum zu erziehen, aufzuklären, zu beeinflussen, letztendlich zu verändern. Er kann sich an die Kreativität des Zuhörers/Zuschauers/Lesers wenden, an seine Fantasie, seine Emotionen, seine persönlichen Assoziationen und Erfahrungen, an seinen Sinn für Humor, sein Empathie-Vermögen, seine Begierden und seine Ängste. Er kann sein Auditorium überzeugen, entflammen, zu einer Busse bewegen, sein Selbstwertgefühl steigern oder fallen lassen, es verletzten, verwirren, ihm schmeicheln, es empören. Und ob ein Kunstwerk als Offenbarung, Predigt, Liebeserklärung, Beleidigung, Appel, Witz oder Unterhaltung konzipiert wurde, beeinflusst weder seine ästhetischen Qualitäten noch seine Wirkung.
Es gibt aber keine stärkere Kollision zwischen einem sozial-politischen Realitätsanspruch und dem Ästhetischen, als in einer ideologisch geprägten totalitären Gesellschaft.
Redet man über das grossartige, unerhörte Phänomen der Musik Schostakowitsch‘s, redet man zwangsläufig auch über diese unübersehbare Kollision - das wissen hier ja alle, und dank der Komplexität und Eigenartigkeit dieses Themas, gibt es überhaupt derartige Symposien, wie das unsrige.
Ich habe ja selbst beim letztem Treffen einiges angesprochen, und möchte jetzt weder mich selbst, noch andere wiederholen -, so würde ich mich gerne mit Ihnen über eine bestimmte ästhetische Strategie unterhalten, für die ich leider kein geeigneteres Wort finde als Verarschung. Es ist nicht nur Humor, nicht nur Ironie, nicht nur Groteske und nicht einmal eine Art „Publikumsbeschimpfung“, denn in all diesen Fällen - und da gibt es unendlich viele wunderbare Beispiele - steht der Künstler so zu sagen auf dem selben Boden, spielt nach die selben Regeln, wie sein Auditorium. Hier aber verarscht, betrügt der Künstler seinen Auftraggeber und sein Publikum, gibt etwas für etwas anderes aus, stellt uns vor einem unauflösbaren Problem, vertauscht die Werte. Ist es Zynismus oder umgekehrt, flammender Idealismus, wenn der Künstler eine falsche Realität entblößt und die gutgläubigen Menschen ihrer Gemütlichkeit, Sicherheit, ihrer Hoffnung beraubt? Man kann sich gut genug an den Streich Banksy‘s mit mit einem sich selbstzertörenden Bild erinnern - eine gelungene ‘Verarschungs-Performence‘. Boccaccio‘s Decameron beginnt mit der Novelle über einen schlimmen Verbrecher, der in seiner letzten Beichte, unmittelbar vor seinem Tod, sich als einen Gerechten darstellte, und dann tatsächlich selig gesprochen wurde -, eine posthume Veräppelung, eine falsche Botschaft, die er der Menschheit hinterlassen hat – aus Verachtung von Mensch und Religion. Eine andere Novelle erzählt von einem eifersüchtigen Mann, der seine Frau unwissendlich das Herz ihres Geliebten verspeisen lies… - eine Verarschungsperformens aus Eifersucht, Beleidigung, Rachsucht.
Man erinnert sich bestimmt an die klassischen Beispiele von Verarschern, die durch ihre Aktionen Lüge und Heuchelei blossstellten: Till Eulenspiegel, Panurg, Soldat Schwejk, gewissermassen auch François Villon. Meistens sind es Meister der Performance, manchmal auch Schöpfer von hoher Kunst, und oft ist es schwierig, eine Grenze zu ziehen und eine Gattung zu bezeichnen.
Selbst Goethes Faust ist ein beunruhigendes Beispiel: nicht nur bezüglich der Zeichnung des sympathischen, ironisch klugen und aufgeklärten, vorurteilsfreien Freigeistes Mephistopheles, sondern viel schlimmer: hatte der gute Herrgott Mephisto nicht einfach verarscht, als er ihm die wenig wertvolle Seele Faustens klaute? (Allerdings sind Machtinhaber immer virtuose Verarscher, die es bestens wissen, Massen zu manipulieren, Menschen daran glauben zu lassen, was sie selbst auf keinen Fall ernst nehmen würden. Einen inszenierten Auftritt, die rituale Aktion eines Priesters, eines machiavellischen Politikers kann man als eine grossangelegte Performance sehen, denken wir zum Beispiel an den bekannten Rollentausch von Putin und Medwedew). 
Für mich persönlich gibt es kaum einen grösseren Schock, als Monteverdis Poppea: das Böse siegt, und aus diesem Sieg einer der schönsten Stücke der gesamten Musikgeschichte entsteht. In einer weniger offensichtlichen, ambivalenten Form steckt jedoch diese Art von Übertölpelung in jeder Tragödie bzw. Passion: das Beste muss geopfert sein, damit man ein schönes Katharsis-Erlebnis erhält. Was wäre Dido und Aeneas ohne den unglücklichen Tod von Dido, Aida ohne die Hinrichtung von Radames und Tristan ohne Isoldes Tod? Bei Monteverdi siegt aber nicht einfach das Schicksal, sondern das Zynische, Niedrige, Unanständige - da könnten kaum Kafka und Charms mithalten.
Hier könnte man übrigens vorsichtig verallgemeinern: sowohl die Tragödie als auch die Komödie sind grundsätzlich kaum mit einer Propaganda-Ästhetik mit ihrer Vorschrift des Sieges vom Guten über das Böse zu vereinen.

IV. „Verarschung“ als sakrales Ritual

…Mit seinem letzten Werk hat Wagner einen Präzedenzfall geschaffen, den die Generationen nachfolgender Künstlerschaft zu wiederholen versucht haben: ein Bühnenmysterium, das weder Gottesdienst noch Oper oder Konzert ist. Die Aufführung soll ein Weltereignis sein, nach welchem die Menschen und ihre Welt nicht mehr dieselben sind. Eigentlich ist es bei jedem Meisterwerk der Fall, aber hier ist es bewusst und gewollt - wie später dann bei Skryabin, Messiaen, Nono oder Stockhausen. Parallel zu den Wagner-Nachfolgern bildet sich eine Strategie eines Antimysterium heraus: eine Kunst, die sich das gleiche Ziel verschreibt - den Menschen zu verbessern, zu erhöhen -, aber dafür zu den Mitteln des Niedrigen, Lächerlichen, Groben und Schlechten greift. Dabei bleiben, wie der Erfinder der Tapeten-Musik Satie und seine Nachfolger als auch Ives, auf ihre Art dem Esoterischen verpflichtet. 
Den Höhepunkt dieser Ästhetik sehe ich im Schaffen von Daniil Charms, zu dem ich mich schon letztes Mal verlauten liess, das m. E. eine Art negative Theologie darstellt: die Sprache ist so unvollkommen, schmutzig, dumm und falsch, dass sich damit folglich nur Dummes und Blödes aussagen lässt. Das Reine, Hohe, Geistvolle, Schöne wird so ausgegrenzt und durch seine Abwesenheit hervorgehoben. Hohe Kunst wird mit niedrigem, hässlichem Material geschaffen. 
Hier erlaube ich mir, über einen Austausch mit Prof. Beniamino Foschini zu sprechen, der sich mit dem russischen Futurismus auseinandersetzte und dessen Buch The Additional Element of Parody, Kazimir Malevich in diesem Jahr erscheint. Herr Foschini fragt sich, was unter der Malewitsch‘en Widmung an Charms stecke, die wie folgt lautet: Gehen Sie und halten Sie den Progress an. Wie viel echter Enthusiasmus und Zukunftbegeisterung steckt eigentlich in den Gedanken und Werken der Futuristen? Wie ernst sind ihre Manifeste und Botschaften gemeint, welche Beziehung bauen sie mit ihrem Publikum bzw. mit den zukünftigen Generationen und der gesamten Menschheit auf?
Kaum hat man mehr über einen Rafael oder Bellini gesprochen, als über das Schwarze Quadrat Malewitschs. Man interpretiert es gerne als Fenster, als Abgrund, Nirvana, als eine Ikone -, mir scheint die Metapher eines ausgeschalteten Computerbildschirms am treffendsten. Ist es eine Offenbarung, eine Provokation, oder eine Verarschung aller Kunstliebhaber und Kunstwissenschaftler, die das Quadrat ernst nehmen? Ich habe beispielsweise einen gehört, der meinte, die Genialität des Werkes steckt darin, dass es nicht ganz gerade bzw. rechtwinklig sei. Auf jeden Fall hatte der eigentliche Autor des schwarzen Quadrats, Alfons Allez, es als Streich, als Spott gemeint. Bei ihm trägt das Bild (1882 geschaffen) den Titel „Kampf der Schwarzen nachts in einer dunklen Hölle“, und es gilt als sehr wahrscheinlich, dass Malewisch das Scherzbild kannte. Das musikalische Schwarze Quadrat, das bekannte Stück von John Cage, hat übrigens derselbe Allez schon 1897 vorweggenommen, mit seinem nur aus Pausen bestehenden Trauermarsch zur Beerdigung des großen Tauben.
Solange man die witzigen Überschriften kennt, geht es um mehr oder weniger spöttische Unterhaltung. Verändert man den Kontext - wie etwa im Falle des Pissoirs von Duchamp im Museum - wird ein Quadrat oder eine Pausen-Musik zu einem Kunstwerk, und weiterhin - zu einem Mysterium. Wieviel darin von einem sakralen Ritual und wieviel von einer Verarschung steckt, lässt sich nicht ganz ermessen, zumal die Verarschung sakralisiert und das Mysterium bestmöglich erniedrigt wird.
Und es ist nur folgerichtig, dass irgendwann eine Ästhetik daraus entsteht, die bewusst eine Synthese der beiden Motive anstrebt, sozusagen eine Erhebung des Menschen durch seine Verarschung.
Die vertritt tatsächlich Yuri Chanon, geb. 1965, ein Komponist und Denker, der sein Schaffen bewusst als eine Synthese von Skryabin und Satie positioniert. Er ist auch ein grossartiger Kenner des Schaffens und der Biographien der besagten Komponisten und sieht sich als eine Art Reinkarnation der beiden. Ihm gehören u. A. zwei kolossale Monographien - eine über Skryabin, die andere über Satie, die ein genaues Studium ihrer Persönlichkeiten mit derer Mystifizierung vereinen.
Hier nun eine Auswahl von Chanons Kompositionen:
Ein Schritt vorwärts – zwei rückwärts (Ballett nach einem Artikel von W. I. Lenin)
Was sprach Zarathustra (eine kirchliche Operette)
Fünf kleine Orgasmen für Orchester
Sinfonie der Hunde
Mittlere Symphonie
Drei Extreme Sinfonien
Lachsymphonie
Agonie Dei (gemischtes Mysterium)
In den späten 1980-er bis frühen 1990-er Jahren war Chanon aussergewöhnlich populär, vor allem dank seiner Musik für die Filme des berühmten Regisseurs Sokurow, die ihm internationale Anerkennung gebracht hatte, aber auch durch seine skandalösen Auftritte auf den Konzertbühnen und im Fernsehen. Seit Mitte 90er hat er alle Kontakte abgebrochen und wohnt verschlossen in Petersburg. Er veröffentlichte einige Bücher, hat einige CDs aufgenommen, die dann doch nicht veröffentlicht wurden, und vernichtete fortzu planmässig sein Oeuvre, weil die Menschheit es seiner Meinung nach nicht verdiente. Vor einigen Jahren wurde man weltweit wieder auf ihn aufmerksam, als einer der bekanntesten russischen Choreographen ein Ballett zur Mittleren Symphonie präsentierte. Chanon verbot indessen die Aufführungen mittels eines Gerichtsprozesses. Die Mittlere Symphonie kann für sein ganzes Konzept der „Mittleren Musik“ stehen, welches eine Musik sei, die gleichzeitig klug und dumm, wunderschön und hässlich, erhaben und grotesk, billig und höchst raffiniert wirke.
So formulierte Chanon selbst seine Ästhetik:
Ich arbeite in der Technik der verlängerten Lüge und Betrug. Und hier gibt es einen Trick: alle Betrogenen müssen sich amüsieren -, und immer wieder kommen, um betrogen zu werden. Sie dürfen sich nicht langweilen. Mehr noch: sie müssen es genießen, dass man sie betrügt.
Wie weit kann eine Publikumsverachtung reichen, und wie erlösend kann ein verwirrendes, provokatives, skandalöses und letztendlich verarschendes Kunstwerk gehen? Eventuell wäre die Belustigende Symphonie hier das radikalste Beispiel: in der Partitur wird markiert, wann und wie (nach ca. einer Stunde Musik) die Behälter mit Lachgas geöffnet werden, um das Publikum erst zum Lachen und dann auch zum Tode zu bringen.
V. Schluss
Ich möchte mit Musik abschliessen, davor aber einige Fragen ohne Antworten - gerne als Anlass zu einer Diskussion!
Ob die Intentionen, die Absichten, die ethischen Prinzipien, die Weltanschauung eines Künstlers und seine Beziehung zu auftraggebenden Institutionen irgendeine Rolle für die Qualität der Werke spielen? Ob sie irgendwelche Rolle für unser ästhetisches Erleben dieser Werke spielen?
Ganz allgemein - ob das Ästhetische ein Teil des Religiös-Sozial-Politischen ist, bzw. sein kann, oder ist es vielmehr dessen Alternative, eine Art Gegenrealität? Meine Antwort habe ich ja schon gegeben, aber es ist nur eine auf subjektiver Erfahrung basierende Meinung und kein Wissen.
Nun möchte ich einige Musikbeispiele zeigen, die uns zugleich etwas näher zurück zu Schostakowitsch bringen. (Beispiele 1. - Mittlere Symphonie, 1. und 2. Satz). Dabei bleiben für mich folgende Fragen offen: was wäre hier als „Verarschung“ gemeint, und inwiefern ist diese als bereinigendes, kathartisches Ritual wirkt? Und auch umgekehrt: wirkt nicht das, was als ein bereinigendes, kathartisches Ritual, eine Selbstkasteiung  konzipiert wurde, nicht eher als ein Streich? Was lässt sich ästhetisch, von jedem ethischen Kontext unabhängig erleben, was nur als guter oder schlechter Witz übrigbleibt? (Beispiele 2. und 3. - Chanon Ljudi idut und Unstwolskaja, 2. Symphonie, 1979)
Ich finde es bemerkenswert, wie die beiden Leningrader musikalischen Extremisten, Chanon und Ustwolskaja, ihre ethischen Ziele verfolgen, und wie unterschiedlich und doch ähnlich ihre künstlerischen Strategien und Mittel sind… Gewiss hatte Ustwolskaja es nicht als „Lüge und Betrug“ - wie es Chanon definiert - gemeint, sondern als eine direkte Wahrheitsoffenbarung. Auf mich wirkt die Musik aber heute peinlich ähnlich dem Chanonschen Konzept und seiner Chanonschen Sprache.
Dabei erkennen wir mit Sicherheit ethisch wie ästhetisch bei beiden Künstlern ihre direkt von Schostakowitsch abzuleitende Linie. Interessant auch zu wissen, dass die beiden Komponisten zugleich die überzeugtesten Verächter und Hasser ihres Meisters waren. 
Yuri Chanon macht sich übrigens auch gerne über gewichtige und einflussreiche Texte, hier seine Vertonung eines Bibelverses (Beispiel 4).
Meinen letzten Musikbeitrag empfinde ich als den enigmatischsten. Zweifellos wurde es als aufrichtiges Lenin-Denkmal komponiert und stellt ein bezeichnendes Beispiel von meisterhafter Propaganda-Kunst dar, und war auf keinen Fall als Verarschung gedacht. Und doch ist es so unwahrscheinlich übertrieben, so masslos süßlich und vom falschen Pathos überladen, dass es als pure Veräppelung wirkt, und zwar so unmittelbar, wie kaum ein anderes mir bekanntes Stück. Das ganze System, dass als Auftrag- und Ideengeber hinter diesem Propaganda-Werk steht, entblößt sich auf eine explosionsähnliche Art und Weise; man fühlt sich wieder einmal an den braven Soldaten Schwejk erinnert, der laut ärztlichem Gutachten die Diagnose Idiot auf Grund der Rufe „Es lebe der Kaiser“ erhielt. Ist es nicht eine schlechte Unendlichkeit von Selbstverarschung?
Meine Freunde, denen ich es gezeigt habe, müssten bis zu Tränen lachen, ich hoffe, sie werden es auch. 
 (Beispiel 5 - Chulaki, 1961)
Zum Schluss noch eine letzte Geschichte:
Mitte 1980er Jahre haben Freunde des grossen Regisseurs Sergej Parajanow, der vor kurzem aus der Haft entlassen worden, eine Ausstellung seiner visuellen Arbeiten in Jerewan organisiert. Es war riskant, denn Paradjanow galt noch als verdächtigt und unloyal. Vertreter der Partei und KGB haben die vorbereitete Exposition begutachtet und die Eröffnung verboten. Als Parajanow davon erfahren hat, hat er am gleichen Tag eine weitere Collage gemacht; die Prüfer wurden erneut eingeladen -, haben das Bild lange betrachtet und dann ihr Verbot aufgehoben.
Wurden sie vom Künstler ver… zaubert? Oh ja - und doch ist ein beindruckendes Bild daraus geworden!