Boris Yoffe English Deutsch Русский
UNTER DER GLOCKE

Gedanke (zeitlos) - Wort (Dauer) - Sprechen (Zeitablauf) - Gedicht (Metrum) - Gesang -
Musik (Zeit-Werden) - Gedanke (von der Zeit befreit)

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Bam, Bam!
…So begann mein Essay über Tarkovsky, das ich vor dreißig Jahren geschrieben hatte;
das Essay ist verschwunden, und ich kann mich noch kaum an etwas erinnern, ausser
dem Bam, Bam. Allerdings lässt sich der Hauptgedanke leicht nacherzählen; dieser
Anfang imitierte das Glockengeläut aus der Schlussnovelle des Films Andrej Rublew -
und weiter versuchte ich zu zeigen, dass alle Filme Tarkovsy‘s sich zu einem magischen
Zyklus zusammenschließen. Im Andrej Rublew wird die Frage nach Sinn und Zweck der
Kunst gestellt - und beantwortet; Der Spiegel ist dann der erste notwendige Schritt auf
dem Weg eines Künstlers-im-Dienste-des-Geistes, wie das im Rublew-Programm auch
postuliert wird: der Schritt zur Selbsterkenntnis. „Ich kann sprechen“ (wie es in der
Einleitungsnovelle aus dem Spiegel heisst) -, was eben nur danach möglich ist. Darauf
beginnt das eigentliche Sprechen, das eigentliche Ikonen-Malen, sowie die magischen
Fresken seiner beider Hauptfilme, Solaris und Stalker. Der nächste Schritt (wie im Andrej
Rublew ebenso vorausgesagt wurde) ist der Zweifel, das Schweigen, das Betrachten des
Sich-Opfernden - der Film Nostalgia. Als Letztes folgt der Film Opferung, das Vernichten
des Geschaffenen.
Für mich ist der Gedanke von der Glocke bis heute wichtig geblieben. Darüber, welch
ungeheure Anstrengungen eine Kultur unternimmt, um unter einem lauten Geläut ihre
Anhänger zu vereinen.
Um einen schönen, lauten Bam zu erzeugen muss man nicht nur eine bronzene Blume
gießen, sondern auch einen Turm bis zum Himmel bauen können. Welche
Herausforderung aller intellektuellen, kreativen, materiellen Kräfte!
Und wofür?
Auch heute, wie vor Jahrhunderten, bleibt das Glockengeläut fast eine einzige Aussicht,
das Element, das dem Menschen vollkommen unbegreiflich und ungehorsam bleibt, zu
beeinflussen: die Zeit. Dabei ist diese Möglichkeit rein magisch, symbolisch, bedingt: ein
Glockenschlag verursacht vermutlich keine Änderung in der Struktur der Zeit (was man
unter diesem Wort auch meinen mag), sondern er richtet sich an die menschliche
Wahrnehmung, menschliche Vorstellung von sich selbst und seiner eigenen Bewegung in
der Zeit (freilich mit jedem denkbaren Grad von Statik/Dynamik).
Zeit vor den Glockenschlag und Zeit nach dem Glockenschlag. Welt vor den
Glockenschlag und Welt nach dem Glockenschlag. Ich vor dem Glockenschlag und Ich
nach dem Glockenschlag. Es ist eine Grenze, eine Kreuzung der Realitäten, die
letztendlich dem Punkt (dem Moment?) des Betretens des Jenseits gleicht. Die Zeit vor
dem Tod und die Zeit nach dem Tod.
…Ein silbernes Geläut signalisiert das Vollziehen des Mysteriums der Eucharistie: soeben
war es noch Brot und Wein, und nun ist es Blut und Leib des Heilands.
Ein schrilles Geläut markiert den Anfang eines Ring-Kampfes. Es hat geklingelt - und man
darf sich gegenseitig verprügeln, und soll die Schläge geduldig einstecken, bis es wieder
klingelt.
Kratzer, Kerben auf der Zeit sind vermutlich das notwendigste und standhafteste aller
Rituale, denn die Zeit bleibt unverständlich und unsteuerbar in jeder Kultur und Epoche.
Und kaum eine Kultur - wie auch kaum ein Individuum - kann die Paradoxie der Zeit, die
in der unmittelbaren Erfahrung gegeben ist, ignorieren oder umgehen: das Lineare bzw.
das Zyklische, das Diskrete bzw. das Fließen, das Dynamische bzw. das Statische.
Wie man die Zeit auch markieren, teilen, benennen und grammatisch modellieren mag -
man schafft so kein Wissen, das die unmittelbare rätselhafte Erfahrung erklären oder nur
ergänzen könnte.
Vielleicht ist diese unmittelbare Erfahrung von Zeit (gibt es sie?) in ihrer
Widersprüchlichkeit das intuitive Wissen von Gott und sich selbst, das Jedermann in
seinem Herz (bom-bom) trägt und das nur vor-verbal, instinktiv, ja physiologisch sein
kann. Der Körper ist eine Gleichzeitigkeit, ein Kontrapunkt von Prozessen
unterschiedlicher Geschwindigkeit, und der psychische Raum nicht minder.
Würde die Gesellschaft diese individuelle Erfahrung nicht ignorieren, hätte sie nicht
funktionieren können. Sie - die Gesellschaft - postuliert eine für alle allgemeine Zeit, die
mit akustischen und visuellen Signalen gemessen wird, und die man sich als einen
teilbaren Raum vorstellen muss, in dem unterschiedliche Richtungen vorhanden sind und
eine Bewegung mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten möglich ist. Letztendlich
bedeutet Zeit in diesem Modell dasselbe wie Bewegung: keine Bewegung bedeutet
Zeitlosigkeit, wobei Bewegung schlüssig durch Ungleichmäßigkeit charakterisiert werden
muss, da die absolut gleichförmige Bewegung ja einem Stillstand gleicht. Andererseits
(ein weiteres Paradoxon) stellt sich die moderne Kultur (den Mond ignorierend) die Zeit als
eine tautologische Gleichmäßigkeit vor.
Die Uhr, sei es eine hässliche Körperergänzung auf der Hand bzw. dem Bauch, sei es ein
Schandfleck des Zifferblattes auf einem schönen alten Turm, ist ein allgegenwärtiges und
Allmächtigkeit beanspruchendes Instrument des Soziums, das in Wirklichkeit nur hilflos
auf der Zeitoberfläche hingleitet, ohne Spuren zur hinterlassen. Nicht weniger grob und
unbeholfen ist die Sprache, welche die komplexe Polyphonie von Prozessen
unterschiedlicher Geschwindigkeit einem positivistischen Mythos unterordnet, in dem
es Gegenstände gibt, die unterschiedliche Eigenschaften besitzen und miteinander
in Beziehungen treten. Etwas, dass als Gegenstand postuliert wird, ein Substantiv,
beansprucht Selbstgleichheit und Unveränderbarkeit -, und ist ein Konstrukt, das im
Alltag seine Funktionalität bewahrt hat und für die Synchronizität innerhalb Gesellschaft
sorgt; dabei ist ein Baum offensichtlich genauso ein Prozess (bzw. eine Summa der
gesamten Bewegung) wie beispielsweise die Dinge, die man mit dem
Nominativ Krieg oder Liebe bezeichnet.
Die vagen Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nur als
räumliche Metaphern funktionsfähig, und werden sofort zu Magie, zu einer unendlichen
Quelle von Mythenschaffung, wenn man sie auf die Zeit anzuwenden versucht -
juristische Mythen mit eingeschlossen (alle Verbrechen werden früher oder später
aufgeklärt und bestraft) wie auch die Sitte, mit der Zukunft Geschäfte zu machen (durch
die selbstlose Vermittlung von Versicherungsfirmen)… Der stille und unspektakuläre Weg,
die Zeit mit Hilfe einer Unterschrift bzw. einer Zahlung auf davor und danach zu verteilen
ist doch nicht viel schwächer als Donner und Blitz, und Glücksspiele, Wetten usw. sind
weniger eine Technik, die Zeit in Geld zu verwandeln, als eine Möglichkeit, das Gefühl
einer Nähe und Schicksalhaftigkeit der Zukunft zu erkaufen, ein Ereignis aus Nichts zu
erschaffen (das Geld verliert dabei seinen Rationalitäts-Nimbus und wird zu einem
magischen Instrument).
Einer offiziellen Mythologisierung wird sowohl die Zukunft unterzogen (europäischer
Positivismus), als auch die Vergangenheit (Ahnenkult), aber auch die Gegenwart kann zum
Gegenstand von Anbetung und Kultus werden (Yoga).
Vielleicht ist am Ende jedes Ritual eine Antwort auf das Verlangen, die Zeit
auf davor und danach zu teilen -, zuallererst eine Opferung, wo das Davor und Danach
ihre maximale Eindeutigkeit erreichen und „vor- und nach dem Tod“ bedeuten, aber auch
alle möglichen abscheulichen Praktiken des gegenseitigen Quälens und Folterns, die eine
Illusion des Dauerns beschwören, den Abschnitt zwischen Davor und Danach zu
beeinflussen und festzuhalten suchen.
…Nun, jedes menschliche Tun ist letztendlich ein Ritual, das für einen Glauben in das eine
oder andere Mythensystem lebensnotwendig ist. Das fehlerfreie Ablaufen eines sozialen
Systems ist dabei unabhängig davon, wie willkürlich und absurd die in ihrem Fundament
liegenden Mythen sind - Hauptsache ist, dass der motivierende Glaube stark genug
bleibt, und der Glaube seinerseits ist davon abhängig, wie überzeugend die Riten sind -
wie stark ihre künstlerische Wirkung ist. Um einen Fingernagel kann man ein gut
organisiertes System aufbauen, das für alle Gesellschaftsmitglieder profitabel ist: man
muss ja nur diesen zu einer heiligen Reliquie erklären und diese Behauptung mit Hilfe von
Poesie, Theater, Maschinerie und Kunst gut zu untermauern. Dann wird man für die
Pilgerströme eine wunderschöne Kathedrale bauen können, Strassen, Gasthäuser und
Bordelle, und Gastronomie und Manufakturen werden florieren.
Offensichtlich kann fast alles zum Gegenstand eines Glaubens werden, um welchen
herum sich dann Ordnung und Wohlstand aufbauen - die Wissenschaft, die ein kritisches
Denken beansprucht, miteingeschloßen (denke man an den Hexenhammer, die
Rassentheorien oder den Marxismus-Leninismus). Und wenn viele Mythen doch ihr
Verfallsdatum besitzen und einer kritischen Prüfung unterzogen werden können, bleiben
die Mythen über die Zeit doch unantastbar - und lebensnotwendig. Es scheint, selbst den
Tod kann man wenn auch nicht besiegen, so doch verschieben, und unsere Hilflosigkeit
der Zeit gegenüber ist so grell, dass alle Märchen willkommen sind, die sie zu dämpfen
vermögen… Bam!
Herzschlag, Puls, Atem - all das widerspricht einer gleichmässigen Unterteilung der Zeit
auf Millimeter, und es gibt vermutlich keinen Menschen, der ein fehlerfreies Sekunden-
Gefühl besässe (sonst würden die Menschen den Raum nicht so mit Uhren versperren).
Dabei besitzt jeder von uns individuelle Instrumente für die Zeitstrukturierung,
Zeitmessung, Zeit-Beschleunigung, -Verlangsamung, -Zusammenpressung, -Dehnung
oder gar -Aufhebung! Es sind: Erinnerung, Erwarten, Erkennen, Vorahnen, Angst,
Erfülltheit, Leere… Schmerz…
Die Folter der Einzelhaft besteht darin, dass in den Wahrnehmung-Mechanismus, der mit
einer bestimmten Geschwindigkeit läuft, kein Treibstoff - die Information - zuläuft. Die
Gnade des künstlerischen Katharsis-Gefühls (die sich nicht käuflich erwerben lässt)
besteht aus einem blitzartigen Verstehen, während eines Augenblicks, in dem sich alle
polychronen Wahrnehmungsprozesse vereinen und der das Gefühl von Unabhängigkeit
von Zeit schenkt -, eine Paradies-Vorahnung.
Zu den fundamentalsten menschlichen Erfahrungen gehören Träume, Visionen,
Halluzinationen, die eine Realität der Uhren und Kalender widerlegen, und jeder kennt die
Erfahrung der Selbstidentifikation, die das Ich in einen linearen Zeitfluss oberhalb der
Zeitzyklen (Tag, Monat, Jahr) platziert und von ihnen unabhängig bleibt. Eine Kultur mag
mehr das Lineare unterstreichen und die Realität als eine zielgerichtete kausale
Bewegung von einem Ereignis zum anderen modellieren, eine andere mag eher das
Zyklische hervorheben und die Mythen von Tod und Auferstehung, vom „Atem des
Universums“ bedienen, jedoch immer verlangt eine Kultur von einem Individuum einen
Kompromiss, weil sie dessen eigener unmittelbaren Erfahrung widerspricht.
Es gibt freilich keinen Mangel an visuellen Signalen, die den Raum der Zeit markieren.
Jedoch spielt hier das Akustische, Auditive eindeutig die Hauptrolle. Akustische Signale
haben den Vorteil, dass sie sich nicht unbedingt auf die Metaphern räumlicher Länge und
Richtung beziehen. Die Vielfältigkeit und Kraft der emotionalen Wirkung hörbarer Signale
sind unendlich. Das Reden, das zu einer Deklamation erhoben wird und weiter, zum
Gesang, wird zu einem magischen Instrument - weil somit die Zeit organisiert und
strukturiert werden kann!
Von allen Künsten und rituellen Aktionen steht die Musik zu einer unmittelbaren Erfahrung
von Sein am Nächsten. Sie spezialisiert sich nicht nur darin, die Zeit auf verschiedenen
Ebenen und mit unterschiedlichen Periodizitäten (von strenger Gleichmässigkeit über
unzählige Abweichungen bis hin zum vollkommenen Hängen-Bleiben) zu organisieren -,
sie bietet darüber hinaus ihre eigenen Muster von Zeit, die sich vom konventionellen
Alltag-Modell unterscheiden, und bringt ihren Zuhörern diese Alternativen bei. So finde
ich in der europäischen tonalen Musik neben dem konventionalen
linearen Beethonveschen Modell drei weitere: die vertikale Zeit (Schubertsches Modell),
wo die Zeit sich wie ein Traum oder eine Vision entfaltet - senkrecht zum Linearen, und
quasi auf einem seiner Punkte bleibend, die statisch-dynamische Zeit (Brucknersches
Modell), die dem Betrachten der Ewigkeit gleicht, wobei der Betrachter sich ja nicht vom
Zwang des Zeitflußes befreien kann, und die konzentrische Zeit - bei Bach (hier entsteht
die Zeit wie eine ständige Bewegung aus einem unbeweglichen Sinn-Zentrum (eines
Kreises oder einer Sphäre) zu der immer sich ändernden, sich im Werden befindenden
Peripherie. Aber schon das Beethovensche Modell, das am nächsten zu den schulischen
Vorstellungen über die Realität steht, stellt uns in seiner Lebendigkeit vor einem
schmerzlichen Paradoxon: ein Werk entfaltet sich zwar als eine logische Kette von
Ereignissen, worin die Anfangssituation sich am Ende quasi auflöst, oder auslebt, - dabei
ist er aber schon ein Ganzes, als Partitur, gegeben, so dass Bewegung und Entwicklung
sich als schöne Illusionen entpuppen. Es ist die meisterhaft glaubwürdige Simulation der
Offenheit und Unvoraussehbarkeit der Zukunft - verknüpft mit der scheinbaren Logik einer
sich erzählenden Geschichte, die die besten Werken Beethovens oder Wagners so
reizend macht.
Die Vier (vielleicht auch mehr) prinzipiell unterschiedlichen Modelle auf einer Seite - eine
unendliche Menge von Einzelwerken auf der anderen, von denen jedes sich von allen
anderen im Atem, imZusammenspiel von Bewegungen und Geschwindigkeiten
unterscheidet. Das ist die Zeit-Vielfältigkeit, die Musik schon als Form realisieren kann,
durch die Bezüge Formabschnitten, Proportionen, Metrum, Rhythmus und harmonischen
Gravitationen. Schon damit kann die enorme Wirkung und Unentbehrlichkeit von Musik
erklärt werden, wobei das Metrische wie das Rhythmische sich unmittelbar, auf der
physiologischen Ebene erleben lässt, und das Harmonische eine gewisse Schulung
voraussetzt. Dazu kommt aber noch das eigentliche musikalische Material, das sich auf
eine oder andere Weise (man achte auf die Gattungsquellen!) mit den Signalen verbindet,
die eine Alltagszeit markieren und diese zu einem höchst differenzierten (mit den Mitteln
der Artikulation, Dynamik, Klangfärbung usw.) symbolischen System vereint.
Und weiter - Musik, die ein sensibles Gehör findet, verwandelt sich zwangsläufig in eine
Quintessenz der Realität, ein Mysterium des Lebens - denn sie operiert mit den gleichen
Kategorien, lässt sich in den gleichen Vorstellungen erleben, wie das, was wir als Leben
bezeichnen: Bewegung, Ruhe, Änderung, Selbstgleichheit, Verwandlung, Erwartung,
Zustand, Werden, Vorahnung, Erinnerung, Erkennung, Erleuchtung.