Was sind das für Schläge am Anfang jeden Satzes – Glocken? Glöck- chen? Das Klingeln im Zirkus
zu Beginn einer Vorstellung? Schluss- akkorde? Zauberworte, die verschiedene Bilder – ein erstes,
zweites, drittes – ins Leben rufen? Ich glaube, sie bedeuten etwa: „gleich... gleich... zeigen wir
euch...!“ Und es ist witzig, wenn die Geige vor ihrem Einsatz im ersten Satz mit dem d–cis–d–e–d
wieder mit diesem „... jetzt... gleich...!“ anfängt.
Eine zauberhafte Einheitlichkeit – aus dem stets gleichen Anfang kann sich alles, was man will,
entwickeln – aber auch ein Chaos, in dem sich alles vermischt. Ein Profi-Zauberer, das ist
Strawinskys (wie auch Picassos) Image. Das Wesentliche in diesem Konzert, wie in allen seinen
Werken, ist die Verzerrung, ein unerwartetes Zusammenkom- men des Nichtverwandten, des
Verschiedenartigen. In dieser Verzer- rung herrscht ein bestimmter Zynismus, eine trockene Ironie,
aber es zeigt sich darin auch ein ehrliches Portrait der Epoche. Man soll sich immer vorstellen
können, was genau verzerrt, parodiert wird, dann ist es leicht beim Spielen auch zu parodieren, zu
verzerren, zu übertrei- ben. Sogar die Schläge am Anfang werden zur Parodie auf die Glo- cken, die
etwas Wichtiges verkünden.
Der erste Satz – die Schläge und dann ein d – und das war es. Dieses d ist die typische Schlussfigur,
die hier zum Anfang, sogar zum „Thema“ wird. Überhaupt ist der ganze Satz eine Art „Smalltalk“,
in dem man die ganze Geschichte des europäischen Konzerts erraten kann, vom Barock bis zu
Brahms, den Salon-Stückchen und dem russischen Tanz a la Petruschka. Ich würde es einerseits so
vielfältig und markant spie- len wie nur möglich (mal auf barocke Art, mal wie Salonmusik usw.,
sodass klar wird, was parodiert wird), und andererseits maximal unge- zwungen, locker und
unbeteiligt, nichts ernst nehmend. In dem Mit- telteil wird es etwas ernster durch die Trompete. Wie
so oft bei Stra- winsky spielt sie etwas „ernsthaft Schönes“ und die Geige etwas Kum- mervolles,
Unruhiges, Ahnungsvolles. Die Abschnitte entsprechen dem Tonarten-Wechsel: d, c, f, a, g usw. Die
Form ist dreiteilig.
Den zweiten Satz empfinde ich als sehr witziges Frauenportrait (die Geige ist die Frau): es fängt so
tiefsinnig, geistvoll an (wieder die Schläge und dann nur das d, aber diesmal d-Moll), und gleich
wird es kokett und erotisch. Eine New Yorker Dame aus hoher Gesellschaft. Mit Elementen der
„Esoterik“ (Spiritismus?). Die zwei Hauptmate- rialen sind das Anfangsmaterial und die Synkopen
aus dem Mittel- teil (wieder die Dreiteiligkeit). Der dritte Satz gleicht einer amerika- nischen
Imitation der Gotik. Es scheint, man möchte gern losgelassen von der Eitelkeit, erhaben und religiös
sein, nur schafft man es nicht. Kann man die Anfangsschläge hier in ihrer Entwicklung oder Recht-
fertigung als gotische Turmspitzen sehen? Ich bin mir nicht sicher. Auf jeden Fall hat dieser Satz
nach all der Zerrissenheit, Collagenartigkeit der beiden ersten Sätze eine sehr große Wirkung durch
die langen, ausgesungenen Phrasen-Melodien-Gesänge. Das sind alles Strophen, die wieder mit den
Glockenschlägen anfangen. Beim Spielen würde ich aber doch mit Leid und Schmerz sparen.
Der vierte Satz ist der gewöhnlichste von allen. Selbstverständlich kehren Stil und Charakter aus
dem ersten wieder. Aber auch die Koketterie des zweiten Satzes, sogar etwas schamloser. Es ist das
Kli- schee eines „freudigen Finales“, nur dass es keinen besonderen Anlass zur Freude gibt. Ein
Tango, eine brasilianische Bachiana, Cowboys auf Pferden, zauberhafte Horn-Rouladen. Aber ohne
akademisch zu sein, nicht zu ernst, nicht zu romantisch. Warum fehlen die Schläge hier am Anfang
(am Ende kommen sie ja zurück)? Nun, weil alles verzerrt ist.
Keine Regel, kein fester Grund unter den Füßen, Ungezwungenheit, Pflichtlosigkeit, Beliebigkeit,
Caprice, virtuose Akrobatik ohne Angst, aber auch ohne motivierenden Idee.