Boris Yoffe English Deutsch Русский
Ikone und Symphonie

Was ist das Verhältnis zwischen Dynamischen und Statischen?
Das unaufhaltsame Fließen der Zeit - und die unbeweglichen Ideen, Vorstellungen, Gestalten,
Gesetze?
Oder - so wie es jeder aus unmittelbarer Erfahrung kennt: wo und wann bin ich ich, wo befindet
sich das Ich, das alle Momente meines Seins miteinander verbindet, was ist es? Kann es
beweglich, veränderbar, fließend sein? Kann es unbeweglich, unveränderbar sein, und wenn
ja, in welcher Art Ewigkeit befindet es sich?
Geht es verloren, wenn eine Krankheit es zersplittert? Bleibt es aber als Individualität bestehen,
wenn der Fluss der äußeren (quasi zufälligen) Information aufhört? Kann man es vielleicht
als eine Art Formel der Bearbeitung dieser Information sehen? Eine Formel, die der Informationsfluss
selbst in seiner ständigen Bewegung schafft?
Ein Knoten, ein Strudel, dessen Form nur relativ statisch, unverändert bleibt, der sich nur
langsamer verändert als der Fluss, der durch ihn fließt (ein “schwarzer“ Fluss-in-sich, der sich
als etwas Bestimmtes dem formenden Strudel - dem wahrnehmenden/interpretierenden Ich -
entsprechend manifestiert).
Ist dann das Statische, das Unveränderbare des Ich eine Art Illusion, von der die Korrektheit
der Ich-Funktion abhängt? Sind die Beständigkeit, Selbstgleichheit, Kontinuität des Ich auch
vom kulturellen Mythos abhängig, also gleichzeitig ein individuelles und ein kulturelles Konstrukt?
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- Für das regelmäßige Funktionieren in der Kultur, in der Gesellschaft werden die unveränderbaren
Züge eines Ich als Code fixiert, eine Zahlen- und Buchstabenkombination, ein Mantra
für tagtägliches Wiederholen: beim Aufwachen muss man sich an eigenen Namen, sein Geburtsdatum,
Soll und Haben erinnern; hier spielt sich alles auf der Ebene der Sprache als
Welt-Modell ab.
- Ein weniger willkürliche, wesentlichere Ebene des Ich sind seine emotionalen und intellektuellen
Eigenschaften, seine Art - Technik, Gewohnheit - das Wahrgenommene zu interpretieren
(emotional wie intellektuell).
- Eine tiefere Ebene, die mit Angst, Schmerz, Genuss - mit Aggression und Sex als Energiequelle
- verbunden ist, ist gleichzeitig das Fundament des Ich und seine Aufhebung.
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Das Gefühl (die motivierende Illusion) der Identifikation mit sich selbst - mit dem eigenen
idealen unveränderbaren Ich - kann man als den zentralen Mythos der westlichen Kultur sehen,
ihr Eckstein. Dem Aufrechterhalten dieses Glaubens dienen vielfältige Rituale, wobei sich
ein breites Spektrum offenbart: von der Dogmatik und Propaganda bis zur freien Reflexion,
Relativierung und gar Aufhebung des Ich.
In der philosophischen Reflexion bedient man sich der verbalen Sprache mit ihrem „eingebauten“
Modell der Welt als eines Raumes, in dem sich bestimmte Gegenstände befinden,
die bestimmte Eigenschaften haben und mit einander in bestimmten Beziehungen stehen. So
muss sich jeder Philosoph mit der Gegebenheit der Sprache auseinandersetzen und schließlich
die Sprache quasi neu definieren, was aber eher zu einer Mehrdeutigkeit als zur gewünschten
Eindeutigkeit führt. Die nonverbalen Konzeptionen sind eine Alternative, die teilweise
eindeutiger, unmittelbarer, teilweise aber auch unzugänglicher, unverständlicher sind als
die verbalen Modelle.
Jenseits der Sprache wird das Ich anders erlebt.
Beim Betrachten eines architektonischen, plastischen, künstlerischen Werkes, beim Musikhören
und beim Lesen eines Gedichtes (hier zieht die Sprache ihren Anspruch, ein adäquates
Modell der Welt zu sein, zurück) kann das Ich in dem Prozess der Wahrnehmung, des ästhetischen
Erlebens, sich selbst unmittelbarer erleben, als eine intensivere Einheit mit sich selbst:
es kann sein ohne zu wissen. In dem intensiven Wahrnehmungsprozess löst sich das Ich auf -
und findet dabei sein Wesen. Diesen Zustand zu erreichen dürfte auch das Ziel unterschiedlichster
religiöser Praktiken sein. Hört dieser Zustand des ästhetischen (mystischen, religiösen)
Erlebens auf, ist das Ich wieder auf die Sprache angewiesen, auf das Verbalisieren, auf
die Realität als Konstrukt des kulturellen Mythos’. Das Erleben, die Erfahrung wird durch Wissen
- Erinnern - ersetzt.
Der Gegensatz von Statik und Dynamik ist wahrscheinlich weniger wesentlich für das Ich-
Konzept in einer zyklisch orientierten Kultur. Hier ist auch das statische, unbewegliche Ich ein
- in sich geschlossener! - Prozess: die Dynamik ist hier eine Dynamik des Wiederkehrens, die
Bewegung ist eine Form der Statik.
Die sich wiederholende Kette von sakralen Ereignissen ist statisch, und das Rad der Zeit
bringt sie eines nach dem anderen ans Licht; das Individuelle befindet sich auf der Peripherie
der Sphäre, deren Zentrum der zyklische Mythos ist. Dieser Struktur entspricht die Ikone, die
es quasi ermöglicht, mit Menschenaugen (also in der Zeit, Bewegung, Veränderung verhaftet)
das Unveränderbare zu sehen. Hier ist nicht nur eine Katastrophe undenkbar, sondern selbst
ein Einzelereignis.
Die zyklisch gedachte Welt wird durch die Vorstellung der Linearität zerstört.
Mit dieser Vorstellung werden die grammatischen Zeitformen zu wahren Herrschern des
Seins. Das, was war, wird sich nie wiederholen, und das, was ist, ist nur die Vorahnung dessen,
was sein wird.
Somit beginnt die Verwandlung der Ikone in die Fotographie, ein langer und spannender Weg.
Schon Giotto zeigt die biblischen Geschichten nicht als überzeitliche, ewige Mysterien, sondern
als einmaliges Geschehen, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort: der
Himmel war blau (und nicht golden), der Esel wedelte mit dem Schwanz… Aber es ist noch
sehr lange bis zur vollständigen photographischen Imitation eines „eingefrorenen“ Schnitts
eines Prozesses, einer Bewegung wie ein Auge es sehen würde - eine Imitation, die alles Sakrale
aufhebt (bei Giotto haben die dargestellte Szenen noch einen besonderen Status, es
sind Schlüssel-Momente, Wunder, Offenbarungen).
Die Synthese des Ikonographischen und Fotographischen entsteht gegen Ende des 15. Jahrhunderts
und kann als Höhepunkt der europäischen Kunst gesehen werden: es ist das Schaffen
von Botticelli, Cima, Bellini, Carpaccio, Grünewald.
…Schauen wir uns als Beispiel die musizierenden Engel auf einem Bild von Bartolomeo Vivarini,
eines Künstlers der vorherigen Generation, an: es gibt hier noch keinen Bedarf, einen
ganz bestimmten Moment fest zu halten, die Engel halten einfach ihre Instrumente in den Armen,
eine allgemeine Vorstellung von einer allgemeinen himmlischen Musik ausdrückend.
Ganz anders ist es bei Carpaccio, Bellini und deren Zeitgenossen, die einen spezifischen
Moment des Musizierens fixieren, einen bestimmte Harmonie, ein Motiv - genaue technische
Details des Spielens wie auch die momentane Stimmung der Spieler. Genauso scheinen auch
die Hauptfiguren eines Bildes zu einem ganz bestimmten Moment abgebildet zu sein mit ihren
Posen, Gesten, Blicken… Es geht gar nicht darum, ob der ältere Meister die Technik der
Imitation der Dreidimensionalität und des Spiels mit Licht und Schatten am Menschenauge
orientiert - beherrscht hat, sondern nur darum, dass die „realistische“ Bestimmtheit des abgebildeten
Moments noch keine ästhetische Priorität hat. Dabei hat sich die erste Generation
der Künstler, die sich die vollkommene Technik der Perspektiv- und Licht-Modellierung angeeignet
haben, von der Vorstellung vom Ewigen, Unveränderbaren, Statischen noch nicht entfernt.
Darin liegt eben die besondere Kraft ihrer Werke, die das Momentane, Fotographische
mit einer strengen Harmonie, Statik der Komposition vereinen (selbst in ihren narrativen Bildern):
man begegnet hier gleichzeitig dem Momentanen und dem Ewigen, dem Allgemeinen
und dem Individuellen, dem Gesetzmäßigen und dem Zufälligen. Die Modellierungstechnik ist
nur eines ihrer Ausdrucksmittel, die perspektivische Einheit eines Bildes kann verletzt und relativiert
werden, sodass, wie z. B. bei Grünewald und Cima, sich unterschiedliche Flächen innerhalb
einer Bildfläche treffen - und die unterschiedliche Bild-Protagonisten bleiben so quasi
unsichtbar für einander. Es scheint, die Meister dieser Generation waren auch große Denker,
Visionäre, die mit ihrem geistigen Auge die gesamte Problematik des Linearen und Zyklischen,
Ewigen und Momentanen, Statischen und Dynamischen, das Vorbestimmte und die
Freiheit betrachtet haben.
Schon Tizian stellt wohl bei sich selbst - mit einer klugen und vielleicht bitteren Nüchternheit -
das Fehlen einer mystischen Intuition, oder einfach gesagt des Glaubens, fest, und versucht
deswegen kaum, den magischen Symbolismus seiner Vorgänger und Lehrer zu imitieren,
sondern schafft tief durchdachte dramatische Szenen, wie durch einen Blitz belichtete Augenblicke
im Fluss des Geschehens (dabei sind diese angehaltenen Augenblicke so inszeniert,
dass der Betrachter die Vorgeschichte des Abgebildeten sich vorstellen kann und sich
in die Gefühle der Protagonisten zu versetzen).
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Es setzt sich die lineare Zeitvorstellung durch - für Jahrhunderte - und somit die Vorstellung
von Ereignis, freiem Willen, individueller Verantwortung und der Möglichkeit, die Welt und die
Geschichte zu beeinflussen. Der Zeitfluss wird als ein Netz kausaler Beziehungen konzipiert,
die Vergangenheit als eine Unendlichkeit von photographischen Momenten, die Zukunft als
Erklärung und Rechtfertigung der Gegenwart. Selig ist, der der Welt in ihren Schicksalsmomenten
beigewohnt hat! (Fjodor Tjutschew)… Die Zeit wird auch nicht nur prinzipiell messbar,
sondern gleichmäßig unterteilt und somit einheitlich und gleichermaßen gültig für alle; alle
Elemente der Welt werden miteinander synchronisiert und der in eine Richtung fließenden Zeit
untergeordnet. Das Unbewegliche, Unveränderbare, Ewige wird als Mythos entlarvt, und auf
den Kathedralen erscheinen Uhren, die letztendlich Gott ersetzen, sodass Nietzsche hier
kaum etwas ergänzen konnte. Das Ich wird einmalig und unnachahmbar, mit dem Wachsen
des Individualitäts-Gefühls wächst auch das Gefühl des individuellen Wertes. Die Kunst wird
zu einem wichtigen Mittel, den neuen kulturellen Mythos zu untermauern, und beschränkt
sich grundsätzlich auf die Aufgabe, einzelne Momente zu fixieren, zu bewahren, die aus dem
Fluss des Geschehens herausgerissen werden konnten, und die die Existenz der Vergangenheit
beweisen sollen - bzw. die Existenz der immer zur Vergangenheit werdenden Gegenwart.
Zur Zeit der Verbreitung der eigentlichen Phototechnik herrscht die entsprechende Ästhetik
schon seit vielen Generationen, und die objektive Realität wird eben als ein mit dem Menschenauge
gesehener Moment verstanden. Das Streben, das Unsichtbare - Unveränderbare -
wiederzugeben, bleibt nur wenigen Künstlern eigen: Rembrandt, El Greco, Velasquez, die
auch einen gewissen Surrealismus pflegen.
Eine grosse Wende in der Kunst ist eben dem Verbreiten der Phototechnik zu verdanken: die
Kunst wird von ihrer Aufgabe befreit, die sichtbare Realität festzuhalten, und somit wird auch
der Glaube in die Struktur der Zeit als eine Ereignis-Kette relativiert - und somit auch das Beziehungssystem
Persönlichkeit - Geschichte.
Allerdings steigert sich zunächst das Selbstwertgefühl eines Künstlers, der sich von dem Diktat
der Imitation eines sichtbaren Momentes befreit findet, enorm: ihm glänzt schon die Zukunft
vor Augen, die er mit seiner starken Hand gepackt hat… die sich doch als ein Quadrat
entpuppt, das nicht einmal so schwarz ist wie die Dunkelheit Rembrandts, die die ganze Fülle
der Welt verdeckt, sondern eher so, wie der Bildschirm eines ausgeschalteten Fernsehers
(Rothko gelingt es allerdings, Quadrate zu beseelen). Das Gesamtschaffen der Künstler der
postphotographischen Zeit ist eine Art Vereinfachung der neuen Synthese des Dynamischen
und Statischen, die Cézanne geschaffen hat: seine Werke sind gleichzeitig ein Abbild des
Sichtbaren und eine flächige Komposition von Farbflecken.
Mit dem Auftreten Cézannes und seiner (z. T. großartigen) Nachfolger nimmt die bildende
Kunst, die keine Verpflichtungen mehr gegenüber der objektiven Realität und linearen Zeit hat,
einen Platz neben der Musik ein, die sie schon im 16. Jahrhundert als Hauptinstrument der
Metaphysik ersetzt hat. Angefangen mit der Polyphonie der Renaissance werden die Probleme,
die mit der Natur der Zeit, mit der Veränderbarkeit und Unveränderbarkeit, Gesetzmäßigkeit
und Zufall, Idee und Materie und letztendlich dem Wesen und der Bedeutung des Ich, in
der Musik behandelt. Es scheint, als folge die Musik der bildenden Kunst zunächst mit großer
Verspätung; und bei aller Emanzipation des Linearen, Dynamischen, kann sie sich nicht von
dem Statischen, Unveränderbaren ganz befreien. Dabei strebt sie nach einer Befreiung vom
Verbalen wie auch von der sozial-historischen Selbstidentifikation so stark, dass sie als idealer
Ort der Begegnung des Ich mit sich selbst dienen kann (für den Komponisten wie auch für
den Interpreten und den Zuhörer).
Die komplex organisierte Zeit der Polyphonie der Renaissance geht von einer Vorstellung der
Harmonie, Ordnung, Gesetzmäßigkeit, idealen Unveränderbarkeit ohne Synchronität aus: dies
entspricht der uneinheitlichen Perspektive der Künstler der Vor-Raffael-Generation.
Die „photographischen“ einheitlichen Zeit-Schnitte spielen keine führende Rolle (sie haben
bloß eine bestimmte Funktion als Markierung der Abschnitte) weder bei Ockeghem, noch bei
Josquen oder Palestrina. Die Musik imitiert hier nicht im Geringsten einen kausalen linearen
zielgerichteten Fluß von einem Ereignis zum anderen, hat nichts mit dem Element des Werdens
zu tun. Das Ich bewahrt seine Individualität und wird seiner Rolle im Ganzen gerecht,
ohne sich einem Diktat der Einheitlichkeit, Gleichheit unterwerfen zu müssen.
Eine extreme Veränderung des Zeitgefühls bringt die pan-tänzerische Epoche des Barock: die
Zeit wird einheitlich, gleich für alle, genau meßbar und unendlich teilbar bzw. zusammenfaßbar
(übrigens ist die enorm gestiegene Bedeutung des Tanzes ein Schritt in Richtung Befreiung
vom Verbalen). Synchronität wird zu einem Gesetz, einem Axiom, was aber noch nicht
sofort den Primat der Linearität bedeutet: ein Tanz ist ein Zyklus und als eine feste Abfolge
von Bewegungen letztendlich auch statisch. Als Folge des Synchronitäts-Prinzips, oder besser
gesagt als Mittel der metrischen Synchronisierung tritt die funktionale Harmonik auf, was
zur Vollendung des tonalen Systems führt - eines Systems, das paradoxerweise das lineare
Modell gleichermaßen unterstützt wie relativiert oder gar verneint. Wenn man die Synchronität
als ein Pendant zur Perspektive sehen kann (die Figuren von den Bildern der Manieristen mit
ihren ausgesuchten Posen fangen an, sich in den Tanzsälen zu bewegen), so ist das tonale
System an sich das - unbewegliche und verborgene - Prinzip jeglicher Bewegung und Änderung.
Die Musik erlaubt es, die Synthese des Dynamischen und Statischen noch unmittelbarer
zu erleben als beim Betrachten eines Bildes, und dieses Erleben kann eine solche Kraft
entwickeln, dass Musik wirklich zu einer Alternative der verbalisierbaren Welt-Vorstellung wird
in ihrer ganzen sozial-historischen Pracht.
All dies ist in ganzer Fülle im Schaffen Bachs präsent, dem es auch gelungen ist, alten Wein in
neue Schläuche zu füllen: den rituellen Opfer- und Auferstehungszyklus mit der Vorstellung
von Einmaligkeit zu vereinen, und die individualistische Selbstbejahung mit dem Streben nach
Auflösung im Absoluten. Das tonale System eröffnet sein Potenzial als ein insgesamt unbeweglicher
Raum, der um gleichgewichtige Zentren organisiert wird, sodass diese Zentren miteinander
durch komplexe Anziehungskräfte verbunden sind und in der Abwechslung ihrer
Dominanz eine ständige Dynamik schaffen: den Zeitfluss.
Das Gleichgewicht des Dynamischen und Statischen bei Bach hat eine Betonung auf dem
Statischen, in den für ihn wichtigsten Gattungen (Tanz, Choral), wie auch in dem für ihn typischen
Formbau (Fuge als Ideal) mit dem eigenen konzentrischen Zeitmodell: das Werk wird
von der zentralen Idee in Richtung Peripherie - der real klingenden Menge an Elementen, die
die ursprüngliche Idee verkörpern, öffnen, verzieren - aufgebaut.
Die großartige Synthese von Dynamischen und Statischen, die Bach geschaffen hat, wird
noch ein Mal erreicht bei Mozart und Haydn: das nämliche Gleichgewicht aber jetzt mit der
Betonung auf dem Dynamischen. Die Musikform wird jetzt als Bewegung, Prozess, Entwicklung,
Abfolge von Ereignissen gedacht, aber noch ohne das narrative Prinzip, eine Anfangssituation
konsequent bis zum Schluss zu verfolgen, zu entwickeln und endgültig zu lösen. Anfang
und Ende liegen noch in der selben Fläche, in dem selben abgeschlossenen zyklischen
Raum, die Dynamik, das Werden werden durch das Element des Spielerischen relativiert,
durch die Anwesenheit der eigensinnigen schöpfenden Individualität. Wenn Bach von einem
bestimmten Weltbild inspiriert war, einem Wissens-System, einem kulturellen Mythos, so ist
die Musik Mozarts und Haydns ein Äquivalent, ein Modell der menschlichen Persönlichkeit in
ihrer ganzen Paradoxie, das umso mehr adäquat wirkt, wie weniger es eine Erklärung, ein
verbalisierbares Wissen, ein Konzept zu sein beansprucht. Es scheint, die Epoche der früher
Wiener Klassik ist die einzige Zeit in der europäischen Geschichte, wo der Geist frei von Ideologie
und Dogmatismus war.
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Die streng narrative Kausalität und die fast wilde Dynamik werden zu Hauptelement der Musik
Beethovens und seiner vielen Nachfolger. Ein Werk wird zum Prozess des Ausschöpfens der
am Anfang gegebenen Situation, zum Prozess des Erreichens einer letzten, besten, endgültigen
Lösung. Die strenge, genaue und kluge Kalkulation wird quasi zu einem unsichtbaren Teil
der Komposition, zu einer Technik, eine Illusion von Spontanität zu schaffen, von der Ungewissheit
der Zukunft - das Statische transzendiert damit das Werden, den zielgerichteten
Strom des Geschehens.
Somit ändert sich auch das Selbstgefühl des Künstlers, sein Status wird quasi zum Herrn
über die Elemente erhoben; es entspricht der Napoleonischen Vorstellung vom Menschen als
Schöpfer der Geschichte. Und nicht zufällig wird ein Komponist letztendlich zur zentralen Figur
in dem europäischen kulturellen Mythos: Wagner. Beethoven hat in seinem Schaffen die
wichtigsten Möglichkeiten der Ästhetik des Dynamischen (bis zu Lachenmann einschließlich)
nicht nur angedeutet, sondern eigentlich auch ausgeschöpft; dabei hat er nicht nur die Technik
der Imitation einer spontanen zielgerichteten Entwicklung vervollkommnet, sondern auch
die Präzedenz der Verwandlung eines musikalischen Ereignisses in ein reales sozial-historisches
Ereignis. Ich meine das Finale der Neunten, in dem die Musik, die schon begonnen hat,
wie durch einen äußeren Willens-Angriff unterbrochen wird. Da ist man fast schon bei der
Vorstellung eines Musikwerkes als eines Mysteriums, einer magischen Aktion, einer schicksalhaften
Wende - wie es bei Wagner, Skryabin, Obuchow oder Stockhausen der Fall sein
wird.
Allerdings eine schicksalhafte Kehrtwende kann nicht reproduziert werden, sie findet nur ein
einziges Mal statt! Und es war die Einleitung zum Tristan.
Bewegung, das Werden, das Dynamische werden zum Selbstzweck, die ekstatische Vorahnung
wird zu einem andauernden Zustand (die angestrebte Zukunft bleibt unerreichbar). Das
Ich als emotional erlebte tiefe und raffinierte philosophische Spekulation, die das Alltags-Ich
relativierte - wie bei Grünewald, Botticelli, Bach, Mozart - wird in einem unpersönlichen Urelement
aufgehoben, in einer ungeformten Energie. Mit seinem berauschenden Liebestrank
befreit Wagner dieses Element, das unter Tabu stand, legitimiert es, kündigt es an, rühmt es.
…Es ist offensichtlich die Wende zur sexuellen Revolution, aber nicht nur das. Die Persönlichkeit,
die Individualität, berauscht durch die befreite Energie des Rein-Dynamischen, fühlt sich
als Herrscher der Geschichte, Schöpfer der Ereignisse: eine Illusion, die die entsetzlichen Opfer-
Rituale des 20. Jahrhunderts hervorgerufen hat.
Auch nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts hat sich die Vorstellung vom Menschen,
der sich selbst und die Welt umgestaltet, nicht verändert - geändert haben sich nur die entsprechenden
Rituale und Zauberwörter, jetzt geht es um die technische Vervollkommnung,
Optimierung der Welt und des Menschen, und dieses Konzept wird durch die beeindruckenden
praktischen Errungenschaften unterstützt, kann also recht attraktiv erscheinen. Dabei
werden Musik wie auch Kunst immer mehr zu sterbenden Sprachen der Vergangenheit - wie
das lineare Modell mit all seinen übermäßigen Ansprüchen (auch die Photographie ist ja manipulierbar
geworden, und mit ihr auch die Vergangenheit) wie auch seine unverstandenen
Alternativen, die Schubert und Bruckner geschaffen haben.
Wenn die Zeit bei Beethoven und seinen Nachfolgern sich horizontal und zielgerichtet entfaltet,
ähnlich wie die historische Zeit - egal mit welcher Intensität sie dabei auch komprimiert
werden kann - so gleicht ein Stück von Schubert einem Traum, einer Vision, die sich quasi auf
der vertikalen Zeitachse (relativ zur Alltags-Realität) entfaltet. Hier zeigt das tonale System
seine Fähigkeit, nicht nur eine fortschreitende Bewegung wiederzugeben, sondern auch eine
Bewegung seitwärts, aufwärts, in die Tiefe, sodass ein Ereignis, anstatt einem anderen zu folgen,
quasi zu seiner Hülle wird. Das Statische wird bei Schubert mit dem Tod assoziiert, der
gleichzeitig anziehend und erschreckend ist.
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…Das Dominieren des Dynamischen, das das tonale System erst ermöglicht hat, wächst über
dieses System hinaus, braucht es immer weniger, befreit sich von den diesem System eigenen
statischen Elementen. Die „Überwindung der Tonalität“ (die auch mit dem Namen Wagners
in Verbindung gebracht wird), das Narrative als formbildendes Prinzip, das die formbildenden
Eigenschaften des tonalen Systems ignoriert, findet man schon bei Berlioz.
In der Nach-Wagner-Zeit wird die Tonalität auf unterschiedliche Arten aufgehoben (schon bei
Skryabin wird manchmal Modulation durch Transposition ersetzt - und schon bei Debussy
gehen die funktionalen Beziehungen, die „Gravitationen“, verloren): zunächst werden noch
gut erkennbare „Beethovensche“ musikalische Konturen zu einem verwaschenen Sprechgesang,
um sich dann in eine Geräusch-Musik zu verwandeln, und das Tonale wird grundsätzlich
durch das Modale ersetzt, ob in Form unterschiedlichster Klang-Reihen oder in Form alternativer
Temperierungs-Systeme.
Dabei findet das tonale System seine vollkommene Realisierung im Schaffen Bruckners.
Eine Brucknersche Symphonie beginnt und endet in der vorgegebenen Tonart, und der Modulationsplan
im Ganzen entspricht einem allgemeinen „Beethovenschen“ Schema, dabei ist
die Harmonik aber so organisiert, dass in jedem Aufbau praktisch jede Tonart zur Tonika werden
kann. Während des ganzes Stücks strahlen alle tonalen Zentren quasi gleichzeitig - in all
ihren komplexen Beziehungen, sodass jedes gleichzeitig das Zentrum und die Peripherie ist.
Wenn man das Schubertsche Modell als eskapistisch bezeichnen kann, als eine Verweigerung
eines über den Tod reflektierenden Ichs, an dem allgemeinen kulturellen Kontext, an der
Geschichte, an der gemeinsamen Zeit-Horizontale teilzunehmen, so wird eine Brucknersche
Symphonie (auch das Quintett) als ein in der Zeit stattfindender Übergang von einer unbeweglichen
Vision zur anderen - von einem Thema zum anderen - als das Betrachten von ewigen
Wesen (oder unterschiedlichen Aspekten eines ewigen Wesens), wenn auch mit menschlichen,
also zur Zeitlichkeit, zur ständigen Bewegung verurteilten, Augen.
…Während die Emanzipation des Dynamischen mit der allmählich eintretenden Verneinung
des tonalen Universums verbunden ist, orientieren sich die Komponisten, die nicht bereit
sind, dieses Universum zu verlassen, am Brucknerschen Modell: Alban Berg, Boris Ljatoschinski
oder Franz Schmidt…