Boris Yoffe English Deutsch Русский
Fragment über die Kabbala und ästhetische Wahrnehmung

Die Problematik der ästhetischen Wahrnehmung mit der jüdischen Ästhetik in einen
Zusammenhang zu bringen, könnte man als reine Willkür ansehen. Ich glaube aber, dass wir, indem
wir uns einige der wichtigsten Vorstellungen der Kabbala klar machen, damit auch automatisch in
die allgemeine ästhetische Problematik hinein finden.
In der Kabbala findet man Theorien für die wichtigsten philosophischen Fächer: Kosmologie,
Ontologie, Anthropologie, Ethik. Das Besondere ist, dass alle diese Theorien im Licht der
Semiologie stehen. Kabbalistische Vorstellungen – so wie auch ihre Forschungsmethoden –
basieren auf einem bei Sefer Jezira eingeführten Prinzip von Gleichheit zwischen dem Ding und
seinem Zeichen. Das Wesentliche offenbart sich gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen der Realität,
in einer Form, die einer konkreten Ebene entspricht. Ein Ding in der materiellen Welt ist dasselbe
wie das Wort, das es bezeichnet –, und das Wort kann als akustisches Zeichen genauso wie als ein
unabhängiges graphisches Zeichen verstanden werden.
Jeder Buchstabe ist ein Urelement der Schöpfung; so wird eine wortbildende Kombination der
Buchstaben zu einer Formel des Gegenstands dieses Wortes.
Diese semiologische Ontologie ist nicht nur Platon fremd, sondern ebenso auch der europäischen
Wissenschaft, die auf der Annahme beruht, dass alle möglichen Zeichen und Zeichensysteme ein
bedingtes, einer Konvention verpflichtetes Instrument sind und keine essentielle Verbindung mit
dem Bezeichneten haben.
Es gibt kaum etwas dem jüdischen Bewusstsein Fremderes als die europäische Vorstellung von dem
toten Buchstaben.
In der von Gott erschaffenen Welt gibt es keine unbedeutenden, toten Formalitäten; und die Sprache
in all ihren Formen ist nicht nur eine Kreation Gottes, sondern sogar sein Instrument der Schöpfung.
Andererseits erscheint dem europäischen Bewusstsein die kabbalistische Vorstellung als ein an das
Absurde grenzender äußerster Formalismus.
Eigentlich sollte man „europäisches logisches und wissenschaftliches Bewusstsein“ sagen, denn im
Bereich der Ästhetik sieht es anders aus. Und nicht nur zu Zeiten des Formalismus in der Kunst, wo
die Form als unabhängig und primär wertvoll betrachtet wird, sondern sogar auch in der
Aufklärung; keinem anderen als Schlegel gehört die Formel an: „Ästhetik = Kabbala“. Prinzipiell
ist Kunst nicht möglich ohne eine intensive Auseinandersetzung mit allen Eigenschaften des
Materials, das als Ausdrucktragendes konzipiert wird. Das entspricht einer gleichen Beteiligung des
Zeichens und des Bezeichneten in der Erzeugung der Bedeutung.
Hier möchte ich noch eine Bemerkung aus dem Bereich der Musik hinzufügen. Es ist fast eine
Regel, dass der Stil eines Komponisten sich in die Richtung entwickelt, die das Publikum als
kompliziert, abstrakt oder gar formalistisch empfindet. Je mehr der Komponist das Eigenleben des
Zeichens, das ihm zuerst eher nur als Werkzeug erschien, für sich entdeckt, desto differenzierter ist
der Inhalt, den es ihm gelingt zum Ausdruck zu bringen –, und desto schwerer ist es für das
Publikum zu entdecken, wie es das Werk für sich verständlich, interpreierbar machen kann (die
„Spielregeln“ dieses magischen Formalismus zu begreifen, die es ermöglichen hinter dem Zeichen
den komplexen Inhalt zu entziffern).
Versucht man eine Parallele zwischen der Kabbala und anderen nicht-jüdischen Theorien
aufzuzeigen, wie z.B. zu der atomistischen Lehre Demokrits, so treten eher Unterschiede hervor als
Ähnlichkeiten. Z.B. existiert selbst die Materie – so wie ein jedes Ding, weil es ein entsprechendes

Wort für sie gibt, in dem noch dazu ihre Eigenschaften umfassend definiert sind – allein durch die
Buchstaben, die das Wort bilden.
So findet man hier weder die Problematik des Dualismus von Zeichen und Bezeichnetem oder von
Materie und Idee, noch die Problematik hinsichtlich des Begriffpaars Inhalt und Form. Hier ruht die
Kabbala auf dem tiefen Verständnis des Paradoxons, dass ein unendlicher Inhalt (Energie, das
Wesentliche) sich in einer begrenzten (und damit unperfekten) Form manifestieren und ausdrücken
muss (man denke an den wunderbaren dialektischen Mythos vom Entstehen und vom Bruch der
Gefäße). Anstatt von Dualismus, könnte man hier von einem System der verschiedenen Ebenen der
Realität sprechen, deren Beziehung zueinander der Beziehung zwischen Körper und Seele gleicht.
Ich glaube, hier kommt man zu dem dritten (eigentlich dem ersten) Prinzip, auf dem sich beide oben
genannten Prinzipien stützen, das der Gleichheit von Zeichen und Bezeichnetem ebenso wie das der
Gleichheit von Inhalt und Form. Dieses dritte Prinzip ist der absolute Monotheismus, der so eine
einheitliche Vorstellung von der Welt bedeutet, in der es keinen Platz für eine „neutrale“
Betrachtung oder unbeteiligte Beschreibung gibt.
Offensichtlich hat es eine derartige magische Wahrnehmung auch in der westlichen Kultur gegeben,
bevor es dann aber zu einer, unbestritten fruchtbaren, Aufteilung in Wissenschaft und Kunst kam.
Verfolgt man diesen Gedanken weiter, so kommt man zu der Erkenntnis, dass die auf Abstraktion
und Logik ruhende westliche Wissenschaft nur in Verbindung mit einer Tötung der Zeichen möglich
ist.
Die Kunst, die sich damit auch von der Magie trennt, bekommt dann einen Freiraum für die eigene
autonome Entwicklung, als ein streng vom „realen Leben“ abgegrenztes Gebiet, innerhalb dessen
das Zeichen leben darf und worin das Ästhetische experimentell erforscht wird, was zweifellos auch
grandiose Resultate hervorgebracht hat, und das übrigens mit einer nicht geringeren Genauigkeit als
derjenigen wissenschaftlichen Theorien, die jeweils epochenspezifische Weltvorstellung
reflektieren.