Boris Yoffe English Deutsch Русский
Emanzipierung der Intonation: Schönbergs Verklärte Nacht

Auch wenn ich immer noch Zweifel an der künstlerischen Größe Schönbergs Musik habe, so ist
seine historische Bedeutung für mich unumstritten. Nur scheint es mir, dass die herrschende
Vorstellung darüber auch fehlerhaft ist. Ich glaube, dass seine wahre Leistung nicht die Erfindung
der Dodekaphonie ist (die Debatte über deren wirklichen Erfinder lassen wir hier beiseite) – es ist ja
nur der Versuch einer formalen Vereinigung der Horizontalen und der Vertikalen, den schon Brahms
unternommen hat –, sondern, dass er die Primärität der Intonation gezeigt hat, ihre Unabhängigkeit
nicht nur von der Tonalität, sondern überhaupt von jedem Tonhöhensystem.
Ist nicht die Geschichte der „Befreiung von der harmonischen Gravi- tation“ – zunächst der
schönbergsche Sprechgesang, dann Glissandi und Mixturen, Schlagzeug-Musik (Xenakis u. a.)
sowie der größte Teil der gegenwärtigen Musik (Geräusche, extremer Vokal usw.) – eigentlich die
Geschichte der Emanzipierung der Intonation?
Und dementsprechend war nicht das Verkünsteln der Intonation in der früheren europäischen
Musikkunst – das Einpassen in bestimmte Grenzen bestimmter Tonreihen und entsprechender
Gravitationssysteme – gleichzeitig sowohl ein Zähmen, Gefangennehmen, Beherrschen, Definieren,
Abgrenzen als auch eine Garantie für ihre maximal differenzierte, feine und reiche Ausdruckskraft?
Schönberg macht einfach die gewöhnlichen Linien der europäischen Musik etwas unscharf,
verschwommen. Als ob man Brahms oder Wagner mit Sprechgesang aufführte, mit unbestimmten
Tonhöhen. Und das ist keine Caprice oder ein nüchternes Experiment, sondern die Suche nach einer
Methode, die Gravitationen zu zerstören, sich von ihnen zu befreien, damit die Kraft der Intonation
unmittelbar wirken kann. Im Endeffekt hat man hier eine Bewegung weg von der Musik hin zum
Reden (die als eine Bewegung von Künstlichkeit und Bedingtheit zur Wahrheit verstanden wird),
die ihre Kulmination in Moses und Aaron erreicht, wo Moses (Schönberg selbst) gar nicht mehr
singt.
Danach haben auch andere Komponisten dieses Prinzip der Emanzipation der Intonation
weiterentwickelt, und zwar mit einer erstaunlichen Konsequenz, Schritt für Schritt: wie bei

Schönberg bewahrt die Musik bei Lachenmann noch völlig unkritisch die Treue zu den spät-
romantischen Vorstellungen von Formbildung, der Technik des Spannungsauf- und -abbaus, wobei

das Spiel mit Textur, Register, Artikulation und Dynamik ganz im Rahmen der entsprechenden
traditionellen Semantik bleibt –, geändert hat sich sozusagen nur der Grad der Wandlung von
Melodie in Sprechgesang, die am Sprechen orientierte Motivik wird zu einer maximal konkreten,
fast eindeutigen Klanggestik.
***
Ich glaube, dass diese Tendenz auch die tonale Musik Schönbergs bestimmt. In der Verklärten
Nacht würde ich beim Aufführen vor allem die Intonationen hervorbringen, die hier zwar noch nicht
„emanzipiert“, sondern ganz „wagnerisch“, aber doch schon auf das Reden, Sprechen hin gerichtet
sind – kurze, exaltierte, aufgeregte, sprechende Motive und Phrasen – Intonationen des Protestes,
Widerstands, der Klage, Verzweiflung, des Hymnus und des Lobes, der ekstatischen Vereinigung,
der engelhaften, übernatürlichen Gnade, des intimen Flüsterns, der Versöhnung, der Beruhigung.
Diese Seite scheint mir in dem Stück wichtiger zu sein als die Harmonik und die Form. Interessant
ist, dass die „Verklärung“ nicht am Ende geschieht, wie es in der romantischen Musik normal wäre,
sondern schon in der Mitte. Das macht einen besonderen Effekt: der erste Teil, der der Finsternis,
dem Leid, dem Protest und der Hoffnungslosigkeit gewidmet ist, soll aufgrund der Intensität der
kurzen Episoden, der kontrastvollen Übergänge und Wechsel, der emotionalen Heftigkeit den
Eindruck erwecken, viel länger zu sein als der zweite. Der zweite Teil, in dem es nur einen Zustand

gibt, erscheint aber nicht nur viel kürzer, sondern gleichzeitig auch endlos. Sogar das erste sinkende
Motiv: am Anfang ist jede seiner Noten wie eine schwere Last, und am Schluss ist es schwerelos,
wie ein Lichtstrahl.Emanzipierung der Intonation: Schönbergs Verklärte Nacht