Boris Yoffe English Deutsch Русский
Die drei Zeitmodelle

Unserer heutigen konventionellen Vorstellung von Zeit entspricht noch das beethovensche Modell
(das auch bei den meisten Komponisten nach Beethoven anzutreffen ist). Hier ist die Zeit ein in
eine Richtung gerichteter Pfeil, wobei kausal miteinander verbundene Ereignisse unumkehrbar
eines nach dem anderen stattfinden. Wenn wir aber ein Musikstück betrachten, so können wir einige
interessante Antinomien feststellen. Erstens erweckt Musik den Eindruck, dass sie sich mit der Zeit
entfaltet, sich entwickelt, sodass man nicht weiß, was als nächstes kommt, und erst am Schluss
bekommt man Gewissheit über die Ausgangssituation (ähnlich wie im klassischen Roman).
Andererseits ist ja schon alles im Notentext vorhanden! – also neben dem musikalisch stilistisch
richtigen Modell des Sich-in-eine-Richtung-entwickelnden- Stroms-der-Ereignisse haben wir ein
anderes Modell mit einem transzendenten Wissen über den ganzen Prozess. Zweitens liegt ein
Pendant zur Kausalität vor: die logische Nachvollziehbarkeit gehört hier zu den Regeln, aber auch
eine andere Art der ästhetischen Wahrnehmung ist möglich, die die Logik als Illusion qualifiziert
oder einfach ignoriert. Drittens die Wiederholbarkeit: man kann den gesamten Prozess, der an sich
als einmalig gedacht ist, fruchtbar wiederholen und dabei stets neue Interpretationen gewinnen,
nicht nur, wenn dasselbe Stück von verschiedenen Interpreten gespielt wird, sondern auch dann,
wenn man eine Aufnahme mehrmals hört, denn der Zuhörer selbst erzeugt ja immer neue
Interpretationen. (... So gesehen bekommt das „unumkehrbare“ Modell fast buddhistische, zyklische
Momente.)

Ein alternatives Zeit-Modell in der Musik ist das bachsche. Hier gibt es zwar eine Entwicklung,
aber nicht von rechts nach links, sondern eher vom Zentrum zur Peripherie. Natürlich entfaltet sich
auch hier das Stück in der Zeit und es ist keineswegs so, dass die Menge aller Töne eines Stücks
gleichzeitig erklingt; es hat hier aber weniger mit der Natur des Stücks zu tun (das Ganze existiert
trotzdem in der Idee gleichzeitig) als schlicht und einfach mit den Bedingungen unserer
Wahrnehmung (um z.B. ein Gebäude oder auch nur ein Bild zu betrachten, braucht man Zeit).
Techniken wie die Verschiebung (wie z.B. im Kanon, wo eine Ereigniskette zu verschiedenen


Zeitpunkten anfängt, sodass sie sich mit sich selbst verknüpft und damit neue Inter- pretations-
Möglichkeiten offenbart), die Geschwindigkeitskombinierung (wenn ein Thema gleichzeitig in verschiedenen
Tempi erscheint oder unterschiedliches musikalisches Material auch gleichzeitig in
verschiedenem Zeitmaß erklingt wie oft in Choral-Bearbeitungen) und sogar die Technik der vollen
Umkehrung gehören hier zur Regel.

Ich weiß nicht, wie relevant es ist, sich Leben/Persönlichkeit an sich aus einer solchen
platonisch-ornamentalistischen Sicht, wie es dieses Zeitmodell uns bietet, vorzustellen, bereichernd
ist es auf jeden Fall.

Es gibt noch ein drittes Modell, das ich beschreiben möchte: das schubertsche (auch für Bruckner
typische). Die Zeit entfaltet sich hier zwar auf „beethovensche“ Weise „von rechts nach links“, tut
es aber quasi parallel oder, besser gesagt, vertikal zur realen Zeit –, sodass man am Ende des Stücks
am selben Punkt ist wie am Anfang (wie nach einem Traum oder einer Vision). Die Kausalität
nimmt dabei ab, wobei die Verbindung zwischen den Ereignissen zwar nachvollziehbar bleibt, sich
aber eher auf ein – eher irrationales – ideales Schema bezieht.