Boris Yoffe English Deutsch Русский
Carmens Mysterium

Eines der zentralen Themen des christlichen Mythos ist das Paradox des Opfers.
Das Schöne, das Reine, das Unschuldige und Erhabene, das Vollkommene – wird getötet,
vernichtet, geopfert, damit alles andere über- lebt, erlöst wird und Verzeihung erlangt.
Vielleicht hat sich niemand so viel mit diesem Paradox beschäftigt wie Bach.
Seine „Matthäus-Passion“ ist gewissermaßen ein Traktat über dieses Thema, mehr noch, ein
flammendes Lehrbuch, eine Predigt.
Die Auseinandersetzung mit diesem Paradox ist die Quelle des irrationalen, emotionalen Aspektes
seiner sonst so höchst rationalen, ordnungsvollen Musik; die Intensität des Erlebens dieses
unbegreiflichen Phänomens – dieses Wunders (an das man nur glauben kann) bestimmt für ihn z.B.
die gesamte Semantik von Dur und Moll als zwei miteinander fest verbundenen Unendlichkeiten.
Dieses Paradox verleiht Tragödien wie Romeo und Julia oder Hamlet einen christlichen
Beigeschmack.
Auch in der Oper ist es präsent.
In La Traviata steht es einem anderen christlichen Motiv – dem der Maria Magdalena – gegenüber.
Eine Ehrlose wird zur Heiligen durch die Kraft der Liebe (ist nicht auch die Geschichte von
Gretchen eine Variation auf dieses Motiv?). Die menschliche Natur, ihrer inneren Notwendigkeit
folgend, bringt sie zum Tod, um sich dadurch auf erhabene Weise zu erneuern. Es wird nicht an
Aufwand gespart, um ein prächtiges schmuckvolles Theater zu errichten, wo dann die festlich
aufgeregte Masse einen Höhepunkt erleben und im Augenblick der Opferung direkt aus der
Urquelle der Kultur trinken kann.
Eine andere zentrale Oper der Romantik ist Carmen. Ist die Zigeunerin der Violetta ähnlich, dem
Gretchen, der Manon Lescaut? Warum ist sie zum Opfer auserwählt, und was heiligt ihr Opfer?
In der Inszenierungs-Tradition bekommt sie oft einige fragwürdige Züge: Carmen wird als eine
erwachsene, erfahrene Frau dargestellt und wirkt so wie eine mit allen Wassern Gewaschene. Nur
ihre so unwiderstehlich anziehende, zauberhafte Musik kann dies wieder wettmachen. Diese Musik,
die zu einer Hure gar nicht passt und viel- mehr ein junges, unerfahrenes Mädchen verkörpert, das
seinen Capricen bedenkenlos folgt und Leidenschaft, Eifersucht sowie auch Todesangst zum ersten
Mal erlebt, ist die Erklärung für Don Joses Liebeswahn. Violetta wird dadurch heilig, indem sie
durch die Liebe die Moral entdeckt und akzeptiert –, Carmen hingegen bleibt jenseits von Gut und
Böse. Sie ist unbegreiflich und kann nur so, wie sie ist, geliebt werden (lieben ohne zu
akzeptieren?). Sind nicht die Schönheit und Kraft ihrer Musik ein Zeichen dafür, dass Bizet selbst
sich in diese Gestalt verliebt hat? Sie ist ein Paradox, und heilig ist sie, weil sie furchtlos echt ist,
und nur sie kann eine so flammende, Leben stiftende Liebe erwecken.
Sie ist nebenbei auch Tod stiftend – weil sie zu schön und zu frei ist – und muss geopfert werden,
damit die Lebensordnung wieder her- gestellt wird.
Wäre es nicht sinnvoll, die beiden Elemente der genialen letzten Szene der Oper – Corrida und
Carmens Tod – so zu vereinen, dass die zuschauende Menge gleichzeitig den Kampf des Torreros
Don-Jose und des Stiers Carmen bejubelt?
Sechzig Jahre später findet das Thema des ewig Weiblichen eine groteske Verzerrung in Bergs Lulu:
Hier besitzt ein Mädchen, bei dem man nicht zwischen Zynismus und Naivität unterscheiden kann,
in einer verdorbenen Gesellschaft, die ihren Zerfall verdient hat, tatsächlich eine transzendente,
unantastbare Schönheit.