Verliebtsein, Angst, Schmerz, Hunger, Entzückung oder Demut kann man nicht aus
Beschreibungen oder Definitionen kennenlernen. Um die Bedeutung dieser Wörter zu verstehen,
muss man diese Gefühle selbst erleben.
Auch die Schönheit kann man nur fühlen, erleben in eigener Erfahrung.
Dass es Menschen gab, die ein Schönheitsgefühl besaßen, weiß ich auch nur aus eigener
Erfahrung: aus der Erfahrung des Lesens, Betrachtens, Hörens von Werken, die sie geschaffen
haben. Jeder von ihnen - so die Erfahrung - hatte sein eigenes Gefühl des Schönen, jeder diente
seiner eigener intuitiven, erratenen Vorstellung der Schönheit.
Es gibt keine Regeln und Kriterien des Schönen außer denen, die jeder, der ein Schönheitsgefühl
hat, selbst - von Neuem - schafft, aus dem Nichts und nach eigener Gestalt: weder
philosophische, noch ethische, juristische, wissenschaftliche, ökonomische oder politische.
Das Schöne kann aus jedem Material erschaffen werden: aus Hässlichkeit und Blödheit kreiert
Daniil Charms erhabene, durchdringende Schönheit.
Das Schöne kann auf dem Fundament jeder Mythologie entstehen: unzählig sind wunderbare
Kunstwerke, die durch so oder anders verstandenen christlichen Mythos inspiriert wurden -, wie
auch dumme und häßliche, und in der Kloake aus Sowjetische-Propaganda-Kunst trifft man
manchmal auf bewundernswerte Perlen. Mehr noch - ein unbeholfenes prätentiöses Märchen wird
dank Mozart zu einem strahlenden Mythos, einem der Ecksteine der Europäischen Kultur,
genauso wie drei erotische Novellen mit dem konsequent sinkenden Glauben an Moral.
Um das Schöne zu schaffen, kann ein Künstler mehrere Kilometer Film gebrauchen, Schnee,
Gewitter und hunderte Statisten, einen tonnenschweren Marmorblock, ein eigenes
Theatergebäude oder lediglich einen Blatt Papier und einen Bleistift - weder die
verschwenderische Großzügigkeit, noch Armut und Bescheidenheit können Schönheit
garantieren.
Schmerz, Leid, Trauer, Angst, Verzweiflung widersprechen der Schönheit nicht. Sie hängt von
ihnen ab - nicht mehr und nicht weniger als Milde, Nettigkeit, Zufriedenheit und Sättigkeit.
Der Schaffung des Schönen können Geiz, Neid, Unanständigkeit und Grausamkeit vorangehen,
wie einem misslungenen Kunstwerk - Opferbereitschaft, Heldentum, Noblesse.
Die Entstehung des Schönen kann sich mit Wahnsinn verbinden, mit selbstgefälliger Dummheit,
mit oberflächlichem Fantasieren, engstirnigem Fanatismus, Analphabetentum und Grobheit -
genauso wie mit Scharfsinnigkeit, Zurückhaltung, freiem Denken, Feinheit, Zartheit und
Verwöhnen.
Die Schönheit kann Stille und Anonymität anstreben (seine mystische Hymne nummeriert
Bruckner als „Symphonien“, ohne ein Wort über Gott zu sprechen), oder sich selbst rühmen und
sich in Pracht und Strahlen kleiden. Die klare Schlichtheit kann das Schönheitskriterium sein -
genauso wie die Komplexität.
Schön kann eine naive Kinderzeichnung sein, oder aber einfach nur naiv. Undurchsichtig,
unverständlich und erschreckend kann das Schöne auch wirken, ohne sich um die Harmonie,
Proportionalität und den goldenen Schnitt zu kümmern - wie viel Schönes gibt es aber auch unter
den Werken, die sich dem Gerede über Harmonie, Symmetrie und strengem Maß verpflichtet
fühlen!
Keine Regeln und kein „objektives Wissen“ können für die Schönheit sorgen: „richtige Tempi“,
„richtige Artikulation“ oder metrische Korrektheit machen eine musikalische Interpretation weder
besser noch schlechter, und das Ideal der Interpretationskunst bleibt das unnachahmbares
Rubato von Cortot, Friedmann und Furtwängler, ähnlich der Verzerrung der Perspektive und
Lichtmodellierung bei Grünewald oder Cima da Conegliano.
Unter allen Mitteln der Selbsttäuschung - und das Schaffen von motivierenden Illusionen ist das
Einzige, vorauf der Mensch sich spezialisiert - scheint die Suche nach der Schönheit als eine
unmittelbar erfahrbare metaphysische Wahrheit am… schönsten zu sein.