Boris Yoffe English Deutsch Русский
Feuer löschender Prometheus

Architektur kann man kaum als ein rein ästhetisches Gebiet betrachten: zu direkt ist ihre
Verbindung zu einer Ideologie, einer Mythologie, zu Macht und dem Gesetz. Niemand weiß,
welches Gesetz gerecht, welche Macht legitim ist, wem Privilegien zustehen, und wem - keine
Rechte. Aber - führt man sich Festungswerke, graziöse Fontainen, erzählende Kirchenfassaden,
ausgesuchte Ornamente, kriegerische Türme, fragile Balkone, breite Treppen, zarte Inkrustationen
vor Augen, dann erübrigen sich alle Fragen, man muss sich den Kopf mit den Grundfragen des
Seins nicht zerbrechen: alles, was die Weltordnung betrifft, ist unmittelbar zu sehen.
Der Palazzo Ducale lässt keinen Zweifel: die venezianische Lebensart, die venezianischen
sozialen und politischen Systeme sind die besten -, klar, klug, aufmerksam, bescheiden und
zugleich pragmatisch und an einem irrationalen Schönheitsideal orientiert. Ein System, in dem
Individualismus weder verneint noch bestraft wird, wenn auch die Allgleichheit vor dem Gesetz
(aber - nur vor dem Gesetz) postuliert wird. Und schaut man auf Versailles - so sieht man gleich
das Kaufhaus Samaritaine kommen, das einem Fleisch gewordenen Parfüm gleicht, und auch die
weitere unausweichliche Entwicklung, zum hässlichen Printemps, zu Le Corbusier, zu
Fussballstadien… Und die deutschen Versailles‘, die nicht die Macht des Verschwendens,
sondern die Macht des Sparens verkörpern (wozu wird gespart? Für ein Hoforchester oder eine
Armee?). Und der Kreml, eine Projektion von Lagerwachttürmen.
Wozu wird auf einem Berg eine Burg gebaut? Zur Verteidigung oder eher der Anschaulichkeit
wegen, als offensichtlicher Beweis eines Feudalrechts auf Erde und Menschen? Und liegt nicht
die unnachahmliche Schönheit von romanischen Kirchen darin, dass sie anschaulich die
geheimnisvolle Einheit mit dem Unsichtbaren und Unbegreiflichen postulieren, Harmonie, Demut
und Stille, Aufmerksamkeit und Vergebung? Die Macht einer Jungfrau, eines Kindes und eines
unschuldig Gemarterten?
…Es gibt eine Schönheit auch in furchterregenden Bauwerken, und auch in solchen, die mit
Eitelkeit und Ruhmsucht zu tun haben… Ohne Schönheit würden sie sofort ihre Kraft verlieren,
ihre Überzeugungskraft, ihre direkte Verbindung mit einem Mythos, mit dem Glauben an Gesetz,
Ordnung und Macht. Ob diese Schönheit unbefleckt bleiben kann? Wer weiß -, aber ihre
Abwesenheit hätte kaum zu einer Aufklärung des Verstandes und der Seele beigetragen.
Wir reden also über die Kraft des Ästhetischen. Die Quelle dieser Kraft zu finden, sie zu
analysieren, ist ohne das Wissen über die Wahrnehmung unmöglich: menschliche Wahrnehmung
allgemein (das Gehirn ist bei allen Menschen gleich gebildet) und die Wahrnehmung jedes
Einzelnen (eine individuelle Erfahrung ist zu eigen, isoliert, um zu einem verallgemeinerten Wissen
über Ausdruck, Bedeutung, Wirkung, Assoziationsfeld eines Symbols, eines Zeichens, einer
Struktur führen zu können). D. h. so ein Wissen ist schlicht unmöglich. Und das betrifft nicht nur
die Kunst in all ihren Formen, sondern auch die Formen des Sich-Benehmens und
Kommunizierens: Reden, Gestikulation, Mimik, Kleidung, Aussehen… Auch die Vergangenheit
wird durch anschauliche, unmittelbar wirkende Kunstwerke konstruiert wie die Denkmäler auf
Straßen und Plätzen, die die Helden aus den Geschichtsbüchern darstellen.
Die Aufgabe eines Künstlers im Dienste einer Weltordnung, Mythologie, Ideologie, Macht ist, ein
solches Werk zu schaffen, das in seiner Glaubwürdigkeit und Wirkung die ein oder andere Realität
bezeugt. Und wenn eine Gruppe ein bestimmtes Weltbild für die Realität schlechthin erklärt,
werden zwangsläufig die Symbole, die für eine Alternative stehen, der Vernichtung bestimmt. Eine
verbale Formel, ein Zeichen, eine Geste kann Ursache eines qualvollen Todes werden. …
Akzeptiere unsere Realität als die einzig wahre, sonst… Und je überzeugender die störenden
Kunstwerke sind - d. h. je schöner - umso beflissener und brutaler werden sie vernichtet.
***
Der Heilige Dominikus verbrennt Bücher von Albigensern. Ein Heiliger, der Bücher verbrennt! Hell
beleuchtet. Nein, es spiegelt sich nicht die richtige Realität in den verdammten Albi-Büchern
wider, ganz offensichtlich. Hat vielleicht ein Albigenser den heiligen Rosenkranz aus den Händen
der Mutter Gottes bekommen? Nein, der Heilige Dominikus hat ihn bekommen, der schmale,
demütige, geistvolle Asket, so schön, so gutherzig, mit einer Lilie in der Hand. So viele Bilder, so
viele Texte bezeugen - genau so war er, und seine Treue und sein Gebet, seine reine Liebe und
alles Andere haben ihm den verdienten Schatz gebracht, direkt aus ihren zarten Händen. Also
weg mit den trügerischen Manichäer-Büchern, sie sollen der Gemeinde der Gerechten wenigstens
mit Wärme und etwas Licht dienen. Und ebenso diejenigen, die sie geschrieben haben.
Auf dem bronzenen Relief - einem Meisterwerk von Giuseppe Maria Mazza (1653-1741) - sehen
wir deutlich, mit welch frommer Geduld der gütige Dominikus den ehemaligen Häretikern hilft sich
von den falschen Büchern zu befreien, damit sie mit ihrem verzerrten Realitäts-Modell nicht das
neue, reine und wahre Weltbild stören, das Bild, das man mit den richtigen Worten in den richtigen
Büchern beschrieben hat! Jung und Alt kommen sie freiwillig, sich für die alten Fehler schämend,
und bringen immer neue böse, dicke Bücher; die Flammen spielen fröhlich und sogar ein nettes
Windhündchen ist gekommen um sich zu wärmen. Man kann auch sehen, wie sich die Engel im
Himmel freuen: Wir danken dir, oh Dominikus, du guter Hirte!
…Wenn schon in Bronze gegossen, und so wunderbar kunstvoll, so bleibt kein Zweifel: genau so
war es. Ein wichtiger Moment in der Geschichte der Menschheit. Es gab einmal böse Bücher,
falsche Gedanken, Häretiker – aber jetzt ist es vorbei, sie sind weg! …jedoch…
Die Kunst, auch wenn sie scheinbar nur als Propaganda gedacht ist, als Manifestation einer
richtigen Realität, wird, falls sie dabei doch noch eine hohe Kunst ist, zu einem Paradoxon.
Wurde sie nicht gut gemacht, so verfehlt sie ihr Ziel: sie überzeugt nicht. Egal wie viel
Revolutionsmützen man in Bronze gegossen hat, die Lenin-Denkmäler überzeugen nicht. Wurde
sie aber gut gemacht, so beginnt sie mit ihrem eigenem Leben zu leben, als Mythos, Fantasie,
Märchen, die eine Realität berühren, schattieren, umreißen, beseelen (begeistern!) - aber sie nicht
ersetzen! Das ästhetische Erleben wird autonom, und das Individuelle wacht erst auf - anstatt sich
in einem gemeinsamen Mythos aufzulösen. Dem ersten Paradoxon folgt das nächste:
aufgewacht, reibt sich unsere Individualität immer wieder die Augen: wie ist ein schönes Werk zu
einem hässlichen, dummen, schrecklichen, widerlichen, lächerlichen Thema möglich?
Und der nächste Schritt: gibt es denn überhaupt wesentliche Unterschiede in den Themen? Ist es
nicht egal, welche Chimäre uns als eine wahre Realität postuliert werden soll? Ist also nicht das
ästhetische Erleben schließlich ein Selbstzweck? Auch im Krieg, auch am Rande des Abgrunds,
auch im Terrorrausch?
Was aber bleibt einem Künstler, der dies verstanden hat? Sind ihm somit alle Themen auf einmal
verloren? Soll er seine eigenen Werke verbrennen, wie Dominikus diese Bücher?
Dieser Künstler wird streng zu der Welt sein mit ihrer Gleichgültigkeit zur Wahrheit und ihrem
Realitäts-Pluralismus. Genauso streng ist er auch zu dem Menschen und seinem Bedürfnis an
ästhetischem Erleben. Ein Feuer löschender Prometheus.