Boris Yoffe English Deutsch Русский
Der Tod und das Böse

Die Musik bietet uns verschiedene Konzepte des Todes.

Kann man Unsterblichkeit ausdrücken? Den Glauben daran, den Durst danach, die Versöhnung mit
dem Tod, den Zustand der Todesfurcht – auf jeden Fall.
Zu welchem Zweck schreibt man ein Requiem? Als Protest (Ligeti, z. B.), zur Versöhnung? Zum
Trost? Zur Freude?

Das Requiem als eine magische Aktion, die der Seele des Verstorbenen ihren Weg ins Jenseits
erleichtern soll, ist eine Seltenheit... Bei Ockeghem ist es noch eindeutig so. In der historischhorizontalen
Welt der Romantik, in der man nur nach vorne sehen kann, liegt die Unsterblichkeit in
den heroischen Taten (auf dem Feld der Kunst ein- geschlossen), in den vollendeten Werken, im
Ruhm –, eine persönliche Unsterblichkeit, die ein Individuum, das sich zu realisieren vermag, in das
Pantheon der Geschichte eingehen lässt. Als Musterbei- spiel könnte man die „Prelüden“ von Liszt
nehmen oder an ein anderes berühmtes Meisterwerk denken, nämlich an die b-Moll Sonate von
Chopin. Nicht zufällig ist der Trauermarsch zu einem Gegenstand des offiziellen politischen Lebens
in der gesamten westlich orientierten Welt geworden; dieses heroische materialistische Konzept der
Unsterblichkeit wird hier mit größter Anschaulichkeit dargestellt: Ist es der Autor selbst, der in dem
langsam schaukelnden Sarg liegt, oder ist er nur Zeuge der Trauerprozession? Die Unsterblichkeit,
die der erhabene, wie von einem Rhapsoden gesungene Mittelteil verspricht, hat auch mit dem
Ruhm als Lohn der persönlichen Leistung zu tun. Oder sind es die Gurien, die den Helden im
Jenseits willkommen heißen? Oder ist es doch die Seele, die ihren Abschiedsblick von weit oben
auf die traurig feierliche Prozession wirft?

... Mein Lieblingsmoment bei Brahms war und bleibt die Stelle im letzten Satz seines Requiems, wo
die Musik des ersten Satzes verwandelt, wie durchsichtig, wieder kommt, wie ein Schatten, in dem
man nur verschwommen die vertrauten Züge erkennt. Ich habe da nach wie vor den Eindruck, ein
Geheimnis der Metamorphose von Leben und Tod zu berühren. ... Sogar nachdem ich den Text an
jener Stelle gelesen habe und durch die Eitelkeit – nicht des Textes, sondern der Beziehung der
Musik zum Text – erschrocken war. Es handelt sich nicht um eine geheimnisvolle Verwandlung,
sondern immer noch um dieses pragmatische Konzept der Unsterblichkeit:
Selig sind die Toten,
die in dem Herrn sterben,
von nun an.
Ja, der Geist spricht,
daß sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach.
So sind Brahms Werke ihm selbst vom ersten bis in den letzten Satz nachgefolgt... Nun gut – so,
wie sie ihm nachgefolgt sind, ist es immer noch wunderschön.

Sich mit dem Tod auseinanderzusetzen bedeutet nicht unbedingt Pessimismus, nicht einmal bei
Schostakowitsch in der Vierzehnten Symphonie, seinem Requiem, denn auch dort blüht die Liebe
zum Leben, es ist ein lebensfreundlicher Pessimismus: wenn man sich vor dem Tod so fürchtet,
bedeutet das, dass das Leben gut ist. Tod ohne Recht auf Auferstehung – das gibt es nur bei Berg.
„Besser ist gar nicht sein, als so sein“. Das Ende, der Tod des Schönen (und trotz allem Geliebten),
das hässlich, fruchtlos, seelenlos und erschreckend geworden ist. (Verwandt mit Berg, wenn auch
ganz anders, scheinen mir Musil, Kafka und Platonow zu sein. Die Beziehung zum Tod – dem
eigenem und dem der Epoche – ist zwar eine andere, aber die befreiende Illusionslosigkeit ist die
gleiche). Lulu – der letzte Akt der Geschichte des ewig Weiblichen – wird nicht von den Toten
auferstehen können, und das Kind der Marie bleibt ohne Zukunft, jeder Bezugsmöglichkeit beraubt,
in einer Leere. Ein Gewissen wird nicht auf der Bühne gezeigt, dafür aber die Gewissenslosigkeit
im Zuschauerraum vor der Bühne; die Leere ist das Auslöschen des Sinnes für Gerechtigkeit.
(So hatte ich mal die Idee für eine Oper über den Rattenfänger aus Hameln: am Ende verschwinden
mit ihm die Kinder aus dem Zuschauerraum). (Und ist nicht bei Musil die feierliche
„Parallelaktion“, deren Suche der ganze gewaltige Roman gewidmet ist, der Krieg?)
Das unsterbliche Gewissen auf der Bühne ist der Narr in Boris Godunov, der weise ist, aber nicht
nach der Weisheit der Welt (für die Welt ist er nur ein „Idiot“). Das Erstaunlichste in Boris Godunov
ist, dass die Frage, ob Boris gemordet hat oder nicht, gar nicht die entscheidende Frage ist. Leben
und Tod bei Mussorgsky sind miteinander durch die albtraumartige Furcht verwandt.
Bei Mozart, der ja auch ein Requiem geschrieben hat, ist es, wie ich es in meinem langen Essay zu
beschreiben versucht habe, der absolute Mut sich in die Problematik des Lebens und des Todes zu
vertiefen, ohne eindeutige Antworten zu erhoffen, oder sollte man vielleicht sagen in die
Problematik der Durchsichtigkeit des Lebens?

Strawinskis Vorstellung über den Tod ist weder tröstlich noch erschreckend. Der Tod, wie er sich in
seinem Requiem offenbart, ist einfach das Gegenteil vom Leben: kein Reichtum an Reizen, an
Schönheiten, an Witz, an Brillanz und Virtuosität, die seine lebende Musik ausmachen. Aphoristisch
kurz – keine Dauer, nur die Essenz. Kalt, karg, genau, licht, trocken –, Glocken. Gleichmäßiges
Licht und Kälte... eine Leichenhalle?

Über das schubertsche Verständnis des Todes habe ich in meinem Essay „Erlkönig“ zu sprechen
versucht. Ein Schritt in die Richtung Schuberts, wenn auch kein so weitgreifender, ist der
Existenzialismus. Ich glaube, dass es sich bei diesem Schritt weniger um Todesangst handelt als um
die Angst vor der Sinnlosigkeit. Wie die Gefühle eines unschuldig Verurteilten vor der Hinrichtung.
Wie der Anfang des Lamentos nach dem Marsch in der Sechsten Symphonie von Tschaikowsky. Sie
ist hier überhaupt ein Musterbeispiel für mich... Es geht um das Gefühl des Verlustes der Einheit,
der Unmöglichkeit eines gemeinsamen Nenners, der Vergeblichkeit der Sinn-Suche. Es ist nicht so,
dass man keine Antwort auf die Existenzfrage findet, sondern es ist die Vermutung, dass es eine
Antwort gar nicht gibt. Ein einfaches Bei- spiel hierfür wäre jede Sonate oder Symphonie, die nicht
in der Tonart endet, in der sie angefangen hat (wie bei Mahler). Das muss eben eine Sonate oder
Symphonie sein, weil das Wesentliche in dieser Gattung das Postulieren der Möglichkeit oder sogar
Notwendigkeit der rational wahrnehmbaren Einheitlichkeit ist. In allen seinen großen zyklischen
Werken stützt sich Tschaikowsky auf die beethovensche Mittel des Schaffens einer solchen
Einheitlichkeit wie auf ein Axiom. Aber in seiner Sechsten lehnt er sie ab, was die Einheit gleich
auf zwei Ebenen verletzt:
1. Einheitlichkeit des Materials und
2. Einheitlichkeit der Entwicklung des Zyklus.

1. Die Themen und Abschnitte im ersten Satz erscheinen quasi isoliert, unabhängig voneinander,
manchmal sogar nur für ein einziges Mal, verbunden nicht durch eine Intonations-Ein- heitlichkeit,
sondern vor allem symbolisch, ideologisch. Entwickelt wird nur das Material des Hauptthemas. Das
Seitenthema liegt quasi in einer anderen Dimension, unbeteiligt von allem, was „da unten“ passiert.
Der Anfang der Durchführung, die Choräle aus der Durchführung und aus der Coda sind quasi
Zitate, fremde Elemente.

2. Die Verletzung der Einheit der Dramaturgie des Ganzen, das Widersprechen der Axiome der
Chronologie (die Ereignisse folgen einander auf der Achse Vergangenheit-Zukunft) empfindet
wahrscheinlich jeder, selbst wenn er die Symphonie zum ersten Mal hört: das ist die gegenseitige
Unverträglichkeit des dritten und vierten Satzes. (Der Semantisierungsprozess ist hier folgender:
man hört und sucht nach der Einheit – und findet sie in der Gestalt der Unmöglichkeit der Einheit,
des Verlierens im Kampf um die Versöhnung mit dem Leben).

Bei Bach sind der Tod und das Böse, also der Tod und das, wovor man Angst hat, ganz
verschiedene Dinge. Hier geht es direkt um die Frage der Beziehung zwischen dem Ethischen und
Ästhetischen. Will man sich mit ihr auseinandersetzen, muss man mit der Frage nach dem Ursprung
und dem Ziel des Bösen beginnen. Es gibt eine Musik, die diese Frage in sich selbst behandelt, und
es gibt eine andere, die auf die Präsenz des Bösen in der Welt antwortet. Die große Antinomie bei
Bach ist der leidenschaftliche Versuch, das Leid und den Schmerz als Notwendigkeit rational zu
begreifen (Problematik des Opfers, Problematik der Ordnung), ohne aber in der Lage zu sein, sie
emotional zu akzeptieren. Ist nicht die Suche nach der Erklärung des Bösen die größte
Herausforderung für die menschliche Vernunft? Und ist es nicht so, dass wahrlich große Menschen,
wenn sie eine Erklärung dafür gefunden haben, sich doch nicht damit abfinden können und weiter
kämpfen müssen – wie Buddha, Jesus, die Talmudisten oder J. S. Bach?
***

Und – ist nicht jedes Ritual am Ende eine Auseinandersetzung mit dem Tod? Und in jedem Opfer,
ob es tatsächlich feierlich getötet oder nur symbolisch dem Tod überliefert wird (selbst in einem
atheistischen Requiem), liegt in ihm nicht der Versuch, einen Kontakt mit dem Tod herzustellen,
sich selbst zu überzeugen, dass man weiß, wohin es geht, wo das Jenseits ist? („Du sollst nicht
töten“ –, ist das nicht dasselbe wie „du sollst keine Menschenopfer bringen“ und gewagter noch –
„du sollst keine Idole anbeten“? Kaum zu verwirklichende Gebote –, schwer ist es zu spielen, ohne
gegen die Regeln zu verstoßen: lässt du das Geheimnis nicht Geheimnis bleiben, schaffst du nur
eine Mythologie). Der Tod verlangt nach einem Ritual. Der Gedanke an den Tod ist schon ein
Ritual. Der Altar ist ein Bahnhof: der Reisende wird auf eine Reise in ein anderes Land geschickt –
es ist unmöglich, dass er es nicht erreicht (dafür sorgt der Priester), und er muss dort für uns bitten.
Wir verabschieden ihn feierlich mit Gesang und Blasmusik, mit Blumen und Tränen – und können
uns dafür auch als Hiergebliebene fühlen.