Den Vortrag an der Uni habe ich zwar verpasst, aber sein Titel - „Kabbala der Erzählung“
- hat mich so beeindruckt, dass ich hier einige Überlegungen zu einem parallelen Thema
niederschreiben möchte.
Während es in dem Vortrag hauptsächlich um die Erzählung als Gattung (eigentlich
literarische Gattung) ging, will ich mich hier aber auf die Erzählung als eine spezifische
mündliche Form konzentrieren.
Doch inwiefern kann man denn überhaupt von der Kabbala der mündlichen Erzählung
sprechen?
Einerseits ist wohlbekannt, dass das schriftliche Zeichen die zentrale Rolle in der
Kabbala spielt. Die Buchstaben sind die Urelemente der Schöpfung; die Kombinatorik
der Buchstaben und ihre Zahlenwerte sind von zentraler ontologischer Bedeutung; die
erstaunlichsten Thora-Kommentare beziehen sich auf die Grammatik, Wortwahl,
Zeichensetzung des Textes, auf die relative Größe der Buchstaben und sogar auf die
kleinen Pünktchen im Text, die von Generationen von Thora-Schreibern genauestens
kopiert wurden. Andererseits könnte man das Geschichte- Gleichniserzählen vielleicht
als die jüdische Erklärungsmethode schlechthin bezeichnen. Die mündliche Thora ist ein
wichtiger Begriff, und sie bewahrt, auch wenn sie schon längst niedergeschrieben ist,
sorgfältig die Form eines offenen, unstilisierten Gesprächs (im Gegensatz zu den
philosophischen Dialogen). Die Helden des „Zohar“ tun die ganze Zeit nichts anderes als
Geschichten zu erzählen und zu deuten, und die chassidischen Kabbalisten haben zwar
auch Bücher verfasst , haben aber vor allem die Erzähltradition außerordentlich geprägt
und weiterentwickelt.
Aus der Sichtweise der Kabbala als sakrale Semiotik stellt sich nun folgende Frage: kann
man eine mündliche Erzählung mit dem schriftlichen Zeichen gleichsetzen? Welche
Eigenschaften hat ein solches gesprochenes Zeichen?
Ich glaube, man sollte zunächst die Eigenschaft des Mündlichen, nur hier und jetzt zu
sein, nennen. Eine Erzählung wahrzunehmen, nämlich sie auf die eine oder andere Weise
zu interpretieren, ist eine unmittelbare Erfahrung, ein Erlebnis. Dabei spielen die
konkrete Situation mit ihren unzähligen Details, die augenblickliche Verfassung des
Zuhörers (und des Erzählers) eine große Rolle. Eine mündliche Erzählung kann ein
Zeichen werden, wenn es einen Zuhörer gibt, der imstande ist, diese zu verstehen: ihr
eine Form und eine Bedeutung zuzuschreiben, sie in eine einheitliche Idee in seiner
Psyche zu verwandeln – und noch dazu im hier und jetzt. Das ist eine andere Art von
Zeichen als es die Buchstaben oder Zahlen sind; mit solchen Zeichen beschäftigt sich –
und ermöglicht sie – vor allem die ästhetische Wahrnehmung. (Wenn man eine Schachoder
mathematische Aufgabe im Kopf löst, ist es etwas anderes: da stellt man sich die
konventionellen Zeichen einfach vor, anstatt sie auf dem Papier zu betrachten).
Um ein Gleichnis des erzählenden Lehrers verstehen zu können, muss der Zuhörer
intellektuell und moralisch vorbereitet sein, und dazu kommt noch ein wichtiger
kabbalistischer Begriff: Kawwana, die Intention und Inspiration. Je höher das
geistigeFassungsvermögen des Zuhörers ist, in umso reichere Zeichen kann sich die
Geschichte verwandeln; und hört man sie unter neuen Umständen noch ein Mal, so
offenbart sie neue Qualitäten.
Ohne Zweifel versucht ein geschriebener Text die gleiche Wirkung zu simulieren, und
besonders stark in der westlichen Kultur, wo die Schrift ein klingendes, gesprochenes
Wort impliziert (im Gegensatz zu den Hieroglyphen). Am stärksten spürt man dies in der
Poesie, die praktisch ganz auf Klang angewiesen ist, - ein Gedicht ist vielmehr ein
klingendes Zeichen als ein geschriebenes, - und so lässt die Qualität der Mündlichkeit
allmählich mit der Zunahme an „Wissenschaftlichkeit“ nach. Es bieten sich viele
Beispiele für die Vorteile des Mündlichen an: man lernt lieber bei einem lebendigen
Lehrer als aus einem Buch (besonders in einigen Kulturen), oder ein Kind lässt sich die
gleiche Geschichte unzählige Male vorlesen, die es selbst nur ein, zwei Male lesen
würde, etc.
Es ist aber absolut unbestritten, wie wichtig die geschriebenen Zeichen sind, - ob in der
Kabbala oder in einer anderen Kultur. Das Mündliche und das Schriftliche ergänzen sich
und beeinflussen einander.
Anders in der Musik ...
Liebe, verehrte Notenschrift! Ich danke Dir für die unzähligen großartigen Momente, die
Du mir ermöglicht hast als Musikliebhaber, Interpret, Komponist. Ich hoffe, Du wirst mir
nicht über diese kleine Kritik böse werden, - es ist mir wohlbewusst, dass ohne Dich
vieles einfach unmöglich wäre, - es geht mir nur darum, mich gegen den Missbrauch
Deiner Schätze zu äußern.
Der Anteil des Mündlichen lässt sich bei der Musik einfach nicht über eine gewisse
Grenze verringern. Ein richtiges Musikstück kann nur unmittelbar, hier und jetzt
wahrgenommen werden und beansprucht Hingabe bei dem Interpreten und Konzentration
beim Zuhörer.
Dann kann es sich als klingendes Zeichen in der Psyche des Wahrnehmenden entfalten,
wobei seine intellektuellen und emotionellen Fähigkeiten gleichermaßen angesprochen
werden.
Ich möchte hier die Gebiete der heutigen Musikpraxis auflisten, die mir durch die
Übertreibung der Wichtigkeit und der Glaubwürdigkeit der Notenschrift verzerrt zu sein
scheinen.
1. Das Musiklernen. Es scheint mir ein echtes Problem zu sein, dass der Musikunterricht
das Notenlernen oft als höchste Priorität ansieht, weil es immer wieder zu einem solchen
Zustand führt, in dem das Kind (und später auch der Erwachsene) ein Notenzeichen
unmittelbar in eine Bewegung übersetzt, ohne das Gehör einzuschalten: man sieht die
Note und bewegt entsprechenden Finger, aber die Melodie hat man übersehen (überhört)
– manchmal sogar eine bekannte Melodie nicht erkannt. Das ist keine Grundlage für das
Musizieren, so einem Schüler kann man weder das saubere Spielen, noch das Phrasieren
beibringen. Und wird so ein Schüler aufgefordert, einen Dreiklang oder gar eine Tonleiter
nach Gehör zu spielen, fühlt er sich überfordert.
Das andere Problem beim Musiklernen ist eher in den Hochschulen verbreitet. Da regiert
der Mythos der „Texttreue“, bei der es eigentlich nur um die äußerste Oberfläche des
Textes geht, praktisch um das Notenbild. Die Instrumentalisten stellen sich keine
interpretatorischen Fragen mehr über die Meisterwerke, die sie zu spielen haben, als ob
schon längst alle Fragen von allen möglichen großen Autoritäten gelöst wurden (die
existierenden Lösungen kennen sie aber in der Regel auch nicht), da sie ihre Aufgabe
darauf beschränken, alle Noten und Dynamik- und Tempobezeichnungen zu
reproduzieren. Sie sind meistens nicht in der Lage, das Stück zu analysieren, achten aber
sehr genau darauf, ob ein Mezzopiano leiser als ein Mezzoforte gespielt wird. So klingt
aber ein Stück am Ende wirklich wie ein „toter Buchstabe“, wie bei einem, der einen Text
in einer Fremdsprache auf zu sagen gelernt hat, ohne sich dafür zu interessieren, wovon
der Text überhaupt handelt.
2. Die Periodisierung der Zeit. Hier ist, glaube ich, tatsächlich eine Verzerrung der
Botschaft passiert. Die Notenschrift hilft die Periodisierung der Zeit in der Musik
widerzuspiegeln: Taktstriche und Notenwerte entsprechen einer Vorstellung der Zeit als
einem karierten Blatt Papier. Zweifellos ist dies die Grundvorstellung der Europäischen
Musik, die Frage ist nur, wie genau soll sie umgesetzt werden. Es gibt motorische Stücke,
wo es ein ästhetisches Element ist, alles so gleichmäßig metronomisch zu spielen wie es
geht, aber es sind eher wenige und auch weniger anspruchsvolle Stücke, irgendwelche
„Perpetuum Mobile“ etc. Sonst gibt es viele Faktoren, die die Art der Bewegung in der
Musik beeinflussen, vor allem die Harmonik, die die Schwere bestimmt. Es gibt
genügend alte Aufnahmen, die die Selbstverständlichkeit des Rubato bezeugen, trotzdem
hat sich heute die Vorstellung etabliert, die Musik möge genau so „rhythmisch“ klingen
wie sie aussieht. Zwei ganz genau gleiche Achtel sind unter allen Umständen einer
perfekt geschnittenen Viertel gleich, sonst ist ihr Spiel unkorrekt und verletzt das
Absolute – die Noten. Auch wenn man viele gescheiterte Versuche kennt, Volks- oder
Jazzmusik (sowie Aufnahmen von großen Interpreten) mit dem traditionellen Rhythmus-
System adäquat zu notieren, bleibt das Verlangen nach einem schweizer-Uhr-genauen
Rhythmus nach wie vor übertrieben groß, - aus diesem Grunde fürchte ich, dass man die
musikalischen, die mündlichen Parameter, die die Bewegung und den Atem der Musik
bestimmen, nicht mehr wirklich erkennt.
Diese beiden Probleme haben eine gemeinsame Wurzel. Die Musik hat in verschiedenen
Epochen immer neue Modelle einer Synthese von Genau-bestimmtem und dem Zufalloder
Improvisation-Überlassenen geschaffen. Allerdings wurde mit der Zeit immer mehr
nach der Genauigkeit des Notenbildes gefragt, und dafür findet man auch nahe liegende
Gründe. Aber die Persönlichkeit des Interpreten einfach zu übergehen und von ihm eine
gesichtslose „korrekte“ Arbeit zu erwarten, ihm praktisch zum Sklaven des Notenbildes
zu machen, widerspricht, meiner Überzeugung nach, den elementarsten Grundlagen der
Musik; so etwas kann nur einen Tiefpunkt des kreativen Individualismus bezeugen, ohne
den aber keine Kunst im europäischen Sinne möglich ist, sowie eine barbarische
Inkompetenz. Außerdem gibt es heute ein Gebiet, wo die Ästhetik der einen und einzig
richtigen Aufführung gilt: die „Elektronische Musik“, die nur als Aufnahme existiert.
Hier gibt es aber auch kein Notenbild, was bedeutet, dass das Mündliche auf seine Kosten
kommt.
3. Die Musikwissenschaft. Bei diesem Punkt wird mir etwas Angst, da es hier um die
zentralen Fragen dieser Disziplin gehen muss. Was eigentlich ist das Gebiet dieser
Wissenschaft? Die interessantesten Fragen der musikalischen Wahrnehmung gehören
einer eigenen Disziplin an, die eher der Psychologie untergeordnet ist, und die
praktischen Fragen der Harmonielehre, Kontrapunkt, Formanalyse oder Instrumentation,
gehören zur Musiktheorie. Und dazwischen liegt ein Gebiet, wo zahlreiche
Wissenschaftler das Geheimnis der Musik mit statistischen, kabbalistischen,
naturwissenschaftlichen und anderen Methoden entziffern, wobei unter Musik vor allem
das Notenbild verstanden wird. Das Notenbild auf dem Papier eröffnet viele
Forschungsmöglichkeiten, und wahrscheinlich fehlt davon in der Tat wahrscheinlich
davon in der heutigen Musikwissenschaft keine. Ein klingendes Zeichen dagegen lässt
sich schwer entziffern, besonders wenn viele Forscher so gut wie keine praktischen
Kenntnisse besitzen ( wie z. B. nach Gehör, ohne Notenbild, sich in dem Stück
orientieren zu können und auch selbst einigermaßen spielen und in verschiedenen Stilen
schreiben zu können). Man sollte gewiss die Wissenschaft mit der Kunst nicht
verwechseln, aber daraus kommt je mehr Wissenschaft, desto weniger Kunst, -- und was
will denn am Ende diese Wissenschaft erforschen?
Die Musik ist kein Notenbild, - und auch kein Zusatz für das Fach Musikgeschichte, -
denn es ist auch ein verbreiteter Aberglaube, dass historische und biografische Daten die
Musik besser verstehen lassen. All das hat mit der Musik als einer Sprache der Ästhetik
kaum etwas zu tun und ist nur ein schwacher Ersatz für das unmittelbare und lebendige
ästhetische Erlebnis (das eben der Gegenstand dieser Wissenschaft sein sollte).
4. Die Komposition. Eigentlich ist die Notation eines der Lieblingsthemen in der
modernen Musik, man könnte sagen, dass wir uns augenblicklich noch in einem Prozess
der Erneuerung, Reformierung der Notenschrift befinden. Ich möchte mich aber hier nur
auf diese eine Frage beschränken: wie ist das Verhältnis zwischen Mündlichem und
Schriftlichen in der „neuen Musik“. Oben habe ich über die Beziehung zwischen dem
Genau-bestimmten und dem Zufall- oder Improvisation-Überlassenen in der Musik
gesprochen, und die heutige Musik bietet uns eine überaus reiche Palette an
Möglichkeiten dieser Beziehung (damit ist ja auch zum Teil die Suche nach neuen
Schreibarten verbunden.) An dem einen Pol finden wir die scheinbar mündliche Musik,
die sich für die Improvisation des Spielers, für den Zufall, für den Augenblick der
Aufführung entscheidet, manchmal auch ganz radikal. Am anderen Pol, den man auch als
Mainstream der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert bezeichnen kann, befindet sich eine
Musik, die ganz eindeutig auf dem Papier entstanden ist. Die beiden Pole aber gehören
nicht unbedingt zu zwei verschiedenen Ästhetiken, - vielmehr sogar umgekehrt, sie
drücken einen Zustand aus, in dem man kein Vertrauen mehr zur menschlichen Intuition
oder kein Interesse mehr an ihr hat, und es ist nur eher eine technische Frage, ob man sie
mit Hilfe des Zufalls, durch versteckte unhörbare Zitate, oder mit Hilfe eines
mathematischen Verfahrens ersetzt. In beiden Fällen ist auch das Endergebnis (das, was
tatsächlich klingt) mehr oder weniger eine Überraschung, selbst für den Komponisten. Es
ähnelt auch einem wissenschaftlichen Experiment: lasst uns mal hören, was passiert,
wenn wir es so und so machen. Und es ist auch eine Tatsache, dass ein solches Verfahren
kein Urteil über die künstlerische Qualität darstellt: es gibt genügend Beispiele für sehr
beeindruckende, aber auch für eher peinliche Stücke. Die stumme Arbeit mit dem
Notenpapier gehört also zur Ästhetik der neuen Musik, behaupte ich, -- und trotzdem
kann ich mich nicht von dem Gefühl befreien, dass sie im Großen und Ganzen am Ende
zu einem grotesken Resultat führt. Man hat ja auch ernsthaft Zeichnungen auf
Notenpapier gebracht, um es dann als Musikstück spielen zu lassen, - auch eine Art
Zufall-Verfahren. Bei allem Interesse und aller Annerkennung der philosophischen Seite
dieser Ästhetik kann ich die Bemerkung nicht unterlassen, dass das Mündliche in dieser
Musik fast eine bloße Illustration, ein unnötiger Zusatz, eine langweilige Pflicht
geworden ist.