Laus Erasmi
Darf man heute noch zwischen einem guten und einem schlechten Witz unterscheiden, bzw.
diesen Unterschied benennen? Lachen ist das Anderssein eines guten Witzes, seine
Verwandlung, Transformation. Ein schlechter Witz versinkt in einer freudenlosen Stille.
Denn das Lachen ist ein Reflex. Allerdings lässt es sich spielend vortäuschen: einem
stumpfen Witz eines eingebildeten Dummkopfs schallt ein aufgezwungenes Kichern
entgegen, ob aus einer zweifelhaften Höflichkeit oder aus einer falsch verstandenen
Toleranz heraus.
Je humorloser jemand ist, umso schneller fühlt er sich durch den Mangel an Lachern über
seine Witzeleien gekränkt.
Ersetzt man jedoch das natürliche Lachen mit einer Imitation, so beleidigt man die Natur.
Dies ist aber nur ein Witzeln gegenüber dem Vergleichen etwa einer schönen und einer
unschönen Frau. Darüber darf man sich heute zwar nur unter vier Augen austauschen, mit
Einem, dem man blind vertraut. Und wenn man lernen kann, leere Komplimente zu machen
und ein Verliebtsein vorzutäuschen, um eine - warum auch immer - unattraktive Frau als
anziehend auszugeben, so kann man die Begierde, die nun ja auch ein Reflex ist, mit Hilfe
von Medikamenten fördern. Eine schöne Frau hat bereits ihren Lohn vorweggenommen,
und womit hat sie ihn verdient? Es scheint wirklich vieles hoffnungslos ungerecht zu sein,
aber - läßt sich Gerechtigkeit durch Heuchelei retten?
Das Schlimmste wäre, wenn ich von einem faszinierenden, klugen, scharfsinnigen,
gebildeten, begabten, ehrlichen und poetischen Menschen reden würde. Das wäre eine
Beleidigung in Gegenwart derer, die diese Eigenschaften nicht besitzen. Und es sind so
viele! Die berüchtigte „Mehrheit“ eben, die, indem sie Mehrheit von irgendwas ist, auch
Recht bekommt.
Dieses Menschenmehr oder -meer kann ohne Weiteres beschließen, dass es einen guten
Witz, eine schöne Frau, einen begabten, gebildeten und freidenkenden Menschen garnicht
gäbe, dass sie Mythos seien, Märchen, gefährliche Hirngespenste.
Einem solchen Realitätsbild kann ich nichts als meine eigene Erfahrung entgegenstellen, aus
der ich unmittelbar weiss, dass es - mindestens vier oder fünf solche Menschen auf der Welt
gibt, und in der Vergangenheit sogar noch mehr gegeben haben dürfte - wie dies viele
überlieferte wissenschaftliche und künstlerische Werke ja bezeugen.
Es ist also kein Märchen, aber auf jeden Fall ein Wunder, einem solchen Menschen zu
begegnen. Die Begegnung mit Erasmus wäre eindeutig ein Wunder, hätte sie nicht auf dem
wunderreichen venezianischen Boden stattgefunden... Habe ich „Boden“ gesagt?
Wir wundern uns aber kaum noch über Wunder, weil die Zahl der bedeutenden wie
unbedeutenden Zufälle, die uns verbinden, jede Statistik herausfordert. Selbst die
Quarantäne- Zeit ist so ein Zufall, denn ohne deren Umstände wären wir nicht in den Modus
täglichen schriftlichen Austausches geraten - zu jedwelchem Thema, selbst mit einem
Schwerpunkt in Blödeleien, aber doch auch zu ernsten und komplizierten Anliegen. Gut zu
Blödeln ist eine ernste und komplizierte Angelegenheit, und jeder Witz von Erasmus hat in
meinem natürlichen Lachen sein Anderssein gefunden. Meistens erscheint sein Witz auch in
einer dichterischen Form, was das Lachen zum künstlerischen Erlebnis macht; in seinen
Villon-Anspielungen lernt man ihn vielleicht am besten kennen: ein aussergewöhnlicher
Kenner, ein Experte, der sich im Labyrinth der europäischen Kunst und Literatur, von Troja
bis zum verpackten Reichstag wie in seinem eigenen, völlig vertrauten Raum bewegt
(Villons Balladen auswendig in Originalsprache), ohne daraus eine akademische Tugend
oder eine Einnahmequelle zu machen - sondern lediglich, weil er es interessant findet – und
- wie ein Kind - frei, offen und authentisch bleibt. Jemand, der nicht nur virtuos des Lesens
und Schreibens (Gedichte, Essays, wissenschaftliche Aufsätze...) mächtig ist, sondern gern
und geschickt mit den Händen arbeiten kann, ein Bauer war, und eine alte Dorfkirche
eigenhändig restauriert hat - wie ein Held Adalbert Stifters, den man gerne als einen
„Utopisten“ gebrandmarkt hat. Aber auch jemand, der mit metaphysischem Stoff
handwerklich virtuos umgehen kann und eine Verbindung zwischen Vergangenheit und
Gegenwart herstellt; hättest du, verehrter Leser, einmal die Laune zu lernen, Tintorettos
Bilder mit den Augen ihres Schöpfers zu sehen, so frage Erasmus um Hilfe.
Erasmus ist auch gut und geduldig; bestimmt hat ihm meine Einleitung hier nicht gefallen,
denn er besitzt wahre Toleranz und teilt meine bösen Ansichten nicht, ob über
experimentelle Kunst etwa, die ich als „machen wir irgendwas, mal sehen, vielleicht kommt
was raus“ wahrnehme, oder über die konzeptuelle Kunst, deren Konzept sich für mich
darauf begrenzt, etwas zu schaffen, was auch ein ungebildeter Nichtskönner schaffen könnte
- im Namen sachlicher Gleichheit und Gerechtigkeit.
Er ist vertrauensvoll - und wie ich von dieser seiner wunderbaren Eigenschaft Nutzen ziehe!
Anderseits ist er kritisch und genau, ehrlich und direkt, ein Meister darin, ein Original von
einer Fälschung oder Übermalung zu unterscheiden - davon profitiere ich genauso...
Erasmus schreibt ein Tagebuch, das teilweise für niemandes Augen bestimmt ist -, ein
Beobachter, der durch sein Betrachten eine Realität schafft, wie ein Kunstwerk.
(B. Y., 2021)