Laus Boridis

Laus Boridis

Hätte der Goliath den David zermalmt, was wäre aus der Weltgeschichte geworden?
Unausdenkbar.
Zumindest kein Christentum. Weil der geheiligte Apfel nur vom Stamme zu fallen hatte.
Boris hat mir ein unverdientes Monument in den Karlsruher Schlosspark gestellt, das es
schleunigst zu stürzen gilt. Hat man nicht auch der Wagnerbüste in den Giardini Venedigs
unlängst böswillig die Nase niedergebrochen. Wagner ohne das adlernde Organ ist
schlimmer als Gogol ohne seine Novelle.
Boris hat über die Blödelei scharfsinnig meditiert. Ich versuche der Albernheit auf den Zahn
zu fühlen. Hinter der intellektuellen - nicht der oberflächlichen, beliebigen - Albernheit
lauert die Traurigkeit des Clowns. Sie spiegelt die Befindlichkeit eines anonymen
Publikums, das es zu unterhalten gilt, ohne Ansehen von Alter, Bildung, Herkommen,
Geschmack. Ein herkulisches Unterfangen, in dem er jedes Mal unrettbar in
Belanglosigkeit, Langeweile und Spott abgleiten und untergehen kann – in Limelight
meisterhaft vorgeführt.
Boris, der tiefsinnende Schöpfer metaphysischer Klänge, die er aus seinem Innern wie
Kinder gebärt, täglich, stündlich und nur dann an seine menschlich palpable Oberfläche
gelangt, wenn ihn Gesellschaft, Familie, Arbeit und Pflichten zwingen – ein Horror für jede
Ehefrau – wohl ein Problem für Schüler und Amtspersonen – ist, soweit ich ihn in den
wenigen Momenten der Begegnung vor der Trennung durch die Seuchenkrise und die
verschiedenen Domizile als haptische Figur kennenlernen durfte, ein ungewöhnliches
Wesen fast volatiler Konsistenz, ist da und nicht da, hinter seiner schützenden Brille, mit
dem vordergründig gütig-verständnisvollen Frageblick eines vorgeblichen Unwissenden, der
seine Nach-innen-gekehrtheit entschuldigen möchte, aber auch eines kindlichen
Zoobesuchers, der stets zum Lernen bereit ist.
Boris entschuldigt sich für alles und jedes: dazusein, fortzusein, zu kommen und zu gehen,
zu nehmen und zu geben, zu sprechen und zu schweigen. Ausdruck, seine von ihm selbst
schwer zu tragende Überlegenheit zu dissimulieren, sein Einstein-sein abzuwiegeln, seine
Empfindungen abzuleiten, wie ein Blitzableiter in empfängnisbereiten Boden. Boris ist ein
Erbe jüdischer Bescheidenheit und Ergebenheit, die sich oft in Metaphern artikuliert, mal in
Ironie und Witz, mal in Sarkasmen, wohlgedämpften, um nicht zu provozieren. Seine
Bildung in fast allen Kunst- und Kulturbereichen ist eminent, obwohl er auch wissentlich
und selektiv Dinge aus seinem Gesichtsfeld ausscheidet, die ihn nicht näher belangen. Das
kann bis zur Intoleranz reichen, derer er sich selbst einmal in einem Interview bezichtigte;
aber er steht zu ihr, argumentiert sie, verteidigt sie, solange auf intelligiblem Grunde
ausgefochten; und dann: ist er in seiner Grosszügigkeit und Akzeptanz bereit, den aus
seinem Geschmackskreis verlorenen Sohn wieder aufzunehmen, neu einzuschätzen.
Boris ist nicht nur ein auditives Genie, sondern auch Eidetiker mit einem seltenen
vergleichenden Gedächtnis, der das Gesehene zu verknüpfen versteht, und dessen Formen
und Bedeutungen fast zwingend in Verhältnisse setzt. Die audiovisuelle Begabung erlaubt
ihm sogar aus Literaturen die nicht seinem Sprachenkreis angehören, die Quintessenzen zu

filtern und herauszusehen: ich bin noch keinem Menschen begegnet, der Wortspiele aus
verschiedenen Idiomen
identifizieren und im selben Witzegrad weiterspinnen kann. Ein Chatgefecht mit ihm ist
anspruchsvollstes Blitzschach, anstrengend, herausfordernd und oft in seiner Reichweite
nicht ausschöpfbar – auch hier ein untrügliches Zeichen jüdischer Intelligenz.
Nur seine spontane, vielleicht unzügelbare Liebe zu gewissen Dingen, Personen,
Situationen, Ideen unterliegt der Kontrolle intelligiblen Abwägens nicht. Hier ist er
Romantiker, aus der Zeit gefallen, beheimatet in einer Welt der Ganzheit, Integrität und
Intimität, die es nicht mehr gibt: Venedig. Da ist er Liebender aus Oper und Theater,
überschwenglich, dramaturgisch, das nicht zuletzt auch seine Literaturvorlieben prägt. Aber
auch da schwenkt er aus, in eine weitere Domäne: die des Unwirklichen: die audiovisuelle
Gegenwelt russischer Autoren des Non- sens, des Absurden, des nurmehr metaphysisch
erlebbaren Nichts. Die Welt russischer und sowjetischer Irrealität, ihrer Maler, Musiker und
Dichter, die eine Antwort auf den Überrealismus der pyramidal gestalteten Gesellschaft war,
mögen auf Boris sehr früh eingewirkt haben. Sein Witz legt diese Wurzeln frei und entblösst
Wahrheiten der Kindheit, erlebte unerfüllte Bedürfnisse, Schmerz und Armut.
Boris ist ein Heimatloser, den eine Familie gottlob beheimatet, ein Wanderer, dem sein
exponierter Beruf das Wandern nur mühsam erlaubt, ein Zerrissener, den seine unglaubliche
Begabung zusammenhält, ein Schöpfer, der aus der Tragik des Alltags seine Goldpartikel
wäscht und der Welt beweist, wie schön sie ist, auch wenn es niemand sieht oder sehen will.
Er ist einer jener wenigen Narren, die der Existenz ihre Berechtigung verleihen oder begabt
sind, den Sehenwollenden die Augen und Ohren zu öffnen, auf das Wahre, Gute und
Schöne...
(E. W., 2021)